Direkt zum Hauptbereich

Shonen / The Boy (Nagisa Oshima, Japan 1969)



In SHONEN zeigt Oshima ausschnittartig den Versuch eines 10jährigen Jungen, ein Leben für sich und seinen 3jährigen Bruder zu finden und zu leben, das von einer desolaten und zerstörten Familiensituation geprägt ist. Traditionelle Modelle von 'Familie' haben sich aufgelöst, der Patriarch ist ein Gauner, der seine Vorherrschaft nur unter äußerster Rücksichtslosigkeit und Anwendung körperlicher und vor allem: seelischer Gewalt mehr schlecht als recht erhalten kann. So scheint die emporkommende Frau, die gerissen ihre Fähigkeiten auszunutzen weiß, nach Erlangung der Macht vor allem erst einmal eines zu tun: den ehemaligen Patriarchen davonzujagen. In diesem Gefüge muß sich nun das Brüderpaar positionieren.

Die Kleinfamilie schlägt sich mit einer besonders radikalen Art der Gaunerei durch's Leben: die Mutter wirft sich an vorbeifahrende Autos und simuliert dadurch schwere Verletzungen, als ob sie tatsächlich angefahren worden wäre. Der Gatte, der im Hintergrund gewartet hat, springt herbei und rastet aus, droht dem Fahrer mit einer Anzeige. Stets einigt man sich auf die Bezahlung einer ausgemachten Summe unter der Hand. Im Laufe der Zeit radikalisiert sich das Geschehen, und so läßt sich der 10jährige Sohn der Familie anfahren, übernimmt die Rolle der Mutter. Dem Vater ist die Lebensgefahr egal, er nimmt das Risiko in Kauf. In der Folge wächst der Gewaltpegel innerhalb der Familie, da die Mutter erneut schwanger geworden ist, und man nirgendwo mehr hinkann. Alle erreichbaren Städte sind mit dieser Masche bereits abgegrast.

SHONEN ist ein unglaublich beeindruckender Film von Oshima, der nicht nur durch seine schwelende Gewalt innerhalb der Familie verstört, sondern auch durch das Leiden der Kinder erschüttert; die Abhängigkeit der Kinder und der Wille, das Gute in den Erwachsenen zu sehen, wirkt dabei umso bedrückender, je verlassener sie sind. Als sich die Sympathien innerhalb des Familiengefüges verschieben, entsteht sogleich die Hoffnung auf eine Besserung der Zustände, die aber entweder durch die Protagonisten selbst oder aber durch einen Zufall zunichte gemacht werden.

Oshimas durchaus schwieriger und sperriger Film verweigert häufig die Erzählung über Handlung und Dialoge, sondern funktioniert über die Bildsprache. Der Zuschauer, oftmals mit dem Film so alleine gelassen wie der Junge innerhalb des Filmes, ist verloren, sucht nach Orientierung. Im Zusammenspiel der komplexen und nicht immer einfach zu lesenden Bilder mit der sehr experimentierfreudigen Filmmusik entsteht dabei eine Sogwirkung, die den Zuschauer an den Film fesselt und mit staunendem, offenen Mund im Kinosessel sitzen läßt. Besonders erwähnenswert scheint mir die Szene der beiden Brüder im Schnee zu sein: in tosendem Schneetreiben baut der Ältere einen merkwürdigen Schneemann mit dem roten Schuh eines verunglückten Mädchens, für dessen Tod er sich verantwortlich fühlt, und versucht seinen dreijährigen Bruder mit einer Aliengeschichte aufzuheitern. Der aber sitzt weiter hinten alleingelassen im Schnee, halb erfroren und heulend: die beiden Kinder zwei schwarze Punkte allein in weiter Schneelandschaft, bis daß der Ältere voll Wut auf den Schneemann einschlägt, ihn zerstört. Da wechselt plötzlich die Geschwindigkeit auf Slow-Motion, der Junge tritt mit seinem Stiefel wieder und immer wieder auf den Schneemann ein, die Filmmusik übernimmt die Klangwelt, und die Wuchtigkeit der Bilder und zugleich deren fragile Poetizität fügen sich in ihrem gegensätzlichen Zusammenspiel zu einem enorm dichten und komplexen Sinnbild des gesamten Filmes.

Oshimas Verweigerung einer stringenten Erzählung bildet also auf der Meta-Ebene die Struktur des zerrissenen Lebens der Protagonisten ab und findet so in der Auflösung der Struktur und über eine Neuordnung von ins-Bild-gesetzte Impressionen zur filmischen Wirklichkeit, die sich eben stärker vom gesellschaftskritischen Impetus leiten läßt, als von althergebrachten traditionellen Formen des Erzählens. So sieht man hier einen schwierigen, aber in seiner suggestiven Kraft ungeheuerlichen, guten und künstlerisch kraftvollen Film, der über diese Sprengkraft der Verstörung vielleicht stärker zum Nachdenken anregt, als so mancher überdeutliche Moralapostelfilm, den keiner sehen will. Sehr toll.


***

Beliebte Posts aus diesem Blog

Tora-san: Our Lovable Tramp / Otoko wa tsurai yo / Tora-San 1 (Yoji Yamada, Japan 1969)

Nach zwanzig langen Jahren des Umherstreifens kehrt Torajiro (Kiyoshi Atsumi) nach Hause zurück: nach Shibamata, einem Vorort von Tokyo. Seine Schwester Sakura (Chieko Baisho) lebt mittlerweile bei Onkel und Tante, da die Eltern verstorben sind. Dort wird er mit offenen Armen empfangen, auch wenn alle wissen, was er für ein Herumtreiber ist. Sakura steht kurz vor der Hochzeit mit dem Sohn eines reichen Industriellen. Somit wäre für ihre Absicherung gesorgt. Zum gemeinsamen Essen mit dessen Eltern nimmt sie Tora als Begleitung mit; das allerdings war ein Fehler: in fantastisch kopfloser Weise betrinkt er sich und ruiniert mit seiner gespielten weltläufigen Gesprächsführung die Zusammenkunft - er verstößt in jeder Form gegen die gebotene Etiquette. Wie er auch im Folgenden, wenn er sich in die Brust wirft, um etwas für andere zu regeln, ein pures Chaos schafft und alles durcheinander bringt. Der Film allerdings ist keine reine Komödie. Denn Tora werden die Verfehlungen vorgehal

Abschied

Micha hat diesen Blog fast 15 Jahre mit großer Leidenschaft geführt. Seine Liebe zum asiatischen Kino hat ihn in dieser Zeit in Kontakt mit ganz unterschiedlichen Menschen gebracht. Viele von euch waren ihm, wenn auch nicht räumlich, so doch gedanklich und emotional sehr nah. Jetzt ist er am 30.12.2021 zuhause in Bonn gestorben. Ich habe mich entschlossen, Michas Schneeland-Blog auch in Zukunft nicht offline zu stellen. So können Interessierte weiterhin all die klugen, detailgenauen und begeisternden Gedanken zum asiatischen Kino nachlesen, die er über die Jahre festgehalten hat.  Neben seinem Blog hatte Micha 2021 noch ein neues Projekt aufgenommen: Gemeinsam mit der Videokünstlerin Sandra Ehlen und Thomas Laufersweiler von SchönerDenken hatte er begonnen, in einem Podcast das filmische Werk von Keisuke Kinoshita zu besprechen. 25 Beiträge sind so bis zu Michas Tod im Dezember noch entstanden. Alle zwei Wochen erscheint nun eine Folge dieser Kinoshita-Reihe. V ielleicht eine schöne

Kandagawa Wars / Kandagawa Inran Senso (Kiyoshi Kurosawa, Japan 1983)

Zwei aufgedrehte Mädels beobachten mit ihren Ferngläsern des Nachts nicht nur die Sterne am Firmament, nein, sondern auch den Wohnblock auf der anderen Seite des Flusses gegenüber. Dort nämlich spielt sich Ungeheuerliches ab: ein junger Mann, der sich für Godard, John Ford, Deleuze und seine Querflöte interessiert, wird von seiner Mutter in regelmäßigen Abständen zum Geschlechtsverkehr gezwungen. Diese inzestuöse Schweinerei können die beiden nicht mehr länger tolerieren und so planen sie, den Unterdrückten aus seiner Sexhölle zu befreien - um ihn selbst zu besteigen, quasi als Heilmittel. Dabei haben sie nicht bedacht, dass der junge Herr vielleicht sogar ganz glücklich war mit seinem Muttersöhnchenstatus. Einmal fremdgegangen, will er sich direkt von der Brücke stürzen. Zudem wäre auch im eigenen Bette zu kehren: denn eine der beiden aufgeweckten Freiheitskämpferinnen wird selbst recht ordenlich unterdrückt. Ein ekliger Brillentyp, sowas wie ihr Freund, besteigt sie in unersättli