Direkt zum Hauptbereich

Tora-San Loves an Artist / Otoko wa Tsurai yo: Watashi no Tora-san (Yoji Yamada, Japan 1973)


In der 12. Folge der Tora-San-Reihe kehrt der Herumtreiber und Straßenverkäufer Torajiro (Kiyoshi Atsumi) erneut nach Shibamata zu Onkel, Tante, Schwester und Schwager zurück. Als er erfährt, dass die Familie im Begriff ist, nach Kyushu aufzubrechen, um dort einen Urlaub zu verbringen, ist er äußerst konsterniert. Er wurde freilich nie gefragt, ob er mitkommen wolle - er ist ja aber nie zuhause und schneit stets unangekündigt (meist wenn er kein Geld mehr hat) herein. Nach deren Rückkehr trifft er einen alten Schulfreund wieder, der ihn seiner Schwester, der Künstlerin Ritsuko (Keiko Kishi) vorstellt - in die er sich prompt verliebt. Natürlich unglücklich.

Tora-San 12 zerfällt in zwei Teile, die miteinander kaum etwas gemein haben. Der Film ist ohne weiteres in zwei 50minütige Episoden aufteilbar, die einander nie bedingen. Als Film an sich ist diese Folge, konventionell betrachtet, wohl gescheitert - oder aber sie ist als perfekter Inbegriff der Serie zu verstehen, die das Prinzip der ewig sich fortführenden Episodenhaftigkeit zum Prinzip erklärt, und dieses mit aller Deutlichkeit in diesem Beitrag in eins führt. Solcherlei theoretische, scherzhafte Überlegungen gehen jedoch letztlich an den Qualitäten der Ereignisse vorbei. Denn jeder Tora-san-Film lebt von seinem chaosstiftenden, dabei liebenswert halunkischen Protagonisten, der seine Mitmenschen den letzten Nerv rauben kann, oder aber diese mit seiner Begeisterung und Offenheit zu Tränen rühren vermag. Dass sich in den süßbitteren Familientragödien auch immer eine zweite, dahinterliegende und ernste Ebene befindet, hebt die Filme aus dem Gros des Entertainmentsumpfes heraus. Zumal ein liebevoll ironischer Blick, gespickt mit zeitkritischen Details stets zur Komplexität beiträgt.

Besonders gelungen ist in dieser Folge die Eröffnungsszene, die in jedem der Tora-sans eine Traumsequenz ist: Torajiro wähnt sich im spätmittelalterlichen Japan als Retter eines Dorfes, als eine Art Robin Hood, der seine Schwester vor den Belästigungen eines Großgrundbesitzers bewahrt. Dieser hat sich während den verheerenden Auswirkungen einer Hungerkatastrophe durch Ausbeutung der Armen bereichert - doch Torajiro, der Tiger, rückt alles wieder gerade - was er in einer feurigen Rede, schneeumtost, auch zu präsentieren weiß. Für diesen leichten Größenwahn, der sich aus der Sensucht nach Anerkennung und mitmenschlicher Liebe speist, kann man ihn nur mit einem Kopfschütteln gerne haben; es ist so lächerlich und menschlich zugleich.

Auch die Ereignisse im Haus der Künstlerin sind phantastisch: schwer angetrunken verwüstet Torajiro aus Versehen ein Gemälde der Malerin, woraus sich beinah eine Prügelei mit dem Bruder ergibt. Nach diesem anfänglichen Streit kommt es aber bald zu einer Annäherung, dann zu einer ganzen Reihe von Missverständnissen, die wieder zu neuen Komplikationen führen. Und immer so fort, bis Torajiro schließlich desillusioniert der Wahrheit ins Gesicht blicken muss. Und dann, deprimiert, die Koffer packt und wieder einmal vor den Problemen davonläuft. Nicht ohne mit völlig ernster Miene seinen Angehörigen mitzuteilen, er habe ihre Gastfreundschaft nun allzu lange beansprucht und dadurch überstrapaziert. Tora-san, der Vorgaukler mit dem guten Herzen.

Beliebte Posts aus diesem Blog

Tora-san: Our Lovable Tramp / Otoko wa tsurai yo / Tora-San 1 (Yoji Yamada, Japan 1969)

Nach zwanzig langen Jahren des Umherstreifens kehrt Torajiro (Kiyoshi Atsumi) nach Hause zurück: nach Shibamata, einem Vorort von Tokyo. Seine Schwester Sakura (Chieko Baisho) lebt mittlerweile bei Onkel und Tante, da die Eltern verstorben sind. Dort wird er mit offenen Armen empfangen, auch wenn alle wissen, was er für ein Herumtreiber ist. Sakura steht kurz vor der Hochzeit mit dem Sohn eines reichen Industriellen. Somit wäre für ihre Absicherung gesorgt. Zum gemeinsamen Essen mit dessen Eltern nimmt sie Tora als Begleitung mit; das allerdings war ein Fehler: in fantastisch kopfloser Weise betrinkt er sich und ruiniert mit seiner gespielten weltläufigen Gesprächsführung die Zusammenkunft - er verstößt in jeder Form gegen die gebotene Etiquette. Wie er auch im Folgenden, wenn er sich in die Brust wirft, um etwas für andere zu regeln, ein pures Chaos schafft und alles durcheinander bringt. Der Film allerdings ist keine reine Komödie. Denn Tora werden die Verfehlungen vorgehal

Abschied

Micha hat diesen Blog fast 15 Jahre mit großer Leidenschaft geführt. Seine Liebe zum asiatischen Kino hat ihn in dieser Zeit in Kontakt mit ganz unterschiedlichen Menschen gebracht. Viele von euch waren ihm, wenn auch nicht räumlich, so doch gedanklich und emotional sehr nah. Jetzt ist er am 30.12.2021 zuhause in Bonn gestorben. Ich habe mich entschlossen, Michas Schneeland-Blog auch in Zukunft nicht offline zu stellen. So können Interessierte weiterhin all die klugen, detailgenauen und begeisternden Gedanken zum asiatischen Kino nachlesen, die er über die Jahre festgehalten hat.  Neben seinem Blog hatte Micha 2021 noch ein neues Projekt aufgenommen: Gemeinsam mit der Videokünstlerin Sandra Ehlen und Thomas Laufersweiler von SchönerDenken hatte er begonnen, in einem Podcast das filmische Werk von Keisuke Kinoshita zu besprechen. 25 Beiträge sind so bis zu Michas Tod im Dezember noch entstanden. Alle zwei Wochen erscheint nun eine Folge dieser Kinoshita-Reihe. V ielleicht eine schöne

No Blood Relation / Nasanunaka (Mikio Naruse, Japan 1932)

Der etwa ein Jahr vor Apart from You entstandene Film Nasanu naka , Naruses erster Langfilm, ist unter den noch verfügbaren Stummfilmen eine deutlich ungehobeltere Produktion, als dessen recht bekannter Nachfolger. Schon die Eröffnungssequenz ist ein richtiger Tritt vor die Brust. Mit schnellen Schnitten und agiler Kamera wird die turbulente Verfolgung eines Taschendiebes gezeigt. Bevor der Dieb später auf offener Straße, so die komödiantische Auflösung, die Hosen herunterlässt um seine Unschuld zu beweisen (übrigens sehr zum Amusement der ebenfalls anwesenden jungen Damen, die aus dem Kichern nicht mehr herauskommen). Die Eröffnung aber ist gleich ein radikaler Reißschwenk über eine Straßenszene hinweg, hinein in eine schreiende Schrifttafel mit dem Ausruf: DIEB! Hier die Sequenz: Darauf die Verfolgung des Taschendiebes durch die alarmierten Passanten, die von der Straße zusammenkommen oder aus den umliegenden Geschäften herausstürzen, alles mit schnellen Schnitten m