Direkt zum Hauptbereich

The Woman in the Septic Tank (Marlon N. Rivera, Philippinen 2011)


Die ersten Bilder aus einem Slum in Manila: die Kamera folgt dem Weg einer Frau durch das enge Labyrinth der Hütten, der Abbruchhäuser, der zusammengezimmerten Unterkünfte; überall Dreck, Menschen, Tiere, Leben auf der Straße, keifende Nachbarn, spielende Kinder, am Horizont die Müllberge, überkopf das Gewirr der Stromleitungen. In der Hütte dann angekommen ihre sieben Kinder, für die sie eine (1) Tütensuppe aufkocht und liebevoll verteilt. Die Kinder essen genügsam. Dann wird die Tochter auf dem Vorplatz gewaschen, mit der Wasserkelle über dem Kopf, und anschließend ins Zentrum zu einem Hotel geführt. Vor einer Zimmertür machen sie halt, ein weißhaariger ergreister Lustmolch öffnet die Tür und zieht das etwa 10jährige Kind zu sich ins Zimmer...

Cut.

Unterbrechung der Diegese. „Halt halt halt! Sollen wir das nicht ganz anders machen?“ Da entlarvt sich der Film als Imagination dreier adrenalisierter Filmemacher, die bei einem Caffé Latte Frappuccino eisgekühlt im lokalen Starbucks die Variablen ihres Films durchsprechen. Handy am Ohr, Macbook am Laufen. Ob man nicht vielleicht doch diese andere Darstellerin nehmen soll, die jünger ist und besser aussieht? Der Film startet erneut, diesmal mit der anderen Protagonistin. „Halt!“ ruft einer, sie könne unmöglich sieben Kinder haben, im Filmbild verschwindet darauf eines nach dem anderen wie durch einen Mausklick, bis drei übrig bleiben. Gut. Weiter...

Mit THE WOMAN IN THE SEPTIC TANK landet der 46jährige Rivera, der sich zuvor als Theaterregisseur betätigt hatte, mit seinem ersten Film bereits einen Coup. Dieser enorm unterhaltsame Meta-Spaß über die Möglichkeiten und Bedingungen des Filmemachens gerät zur euphorischen Groteske, zur Satire auf den Arthouse-Filmbetrieb. Denn den Filmemachern stellen sich noch einige weitere Hürden in den Weg, die sie nehmen werden müssen. Einen wunderbaren Dreh bekommt der Film zudem, als offen diskutiert wird, was man noch alles unternehmen müsste, um den Film auf europäischen Filmfestivals unterzubringen: wieviel Kindesmissbrauch und Prostitution, wieviel Armut, wieviel Aufopferungsbereitschaft und Sozialkitsch in den Film integriert werden muss, um bei den Europäern die richtigen, „gesellschaftskritischen“ Variablen erfüllt zu haben, um als engagiertes Weltkino durchzugehen. Den jungen Filmemachern geht es dabei freilich nur ums Berühmtwerden, und um die Einladung nach Cannes oder zur Berlinale. Dass Riveras Film noch einiges an Überraschungen zu bieten hat, kann man sich vorstellen: besonders schön etwa ist die erste Location-Besichtigung im echten Armutsviertel. Wo man freilich mit dem nagelneuen Mietwagen vorfährt. THE WOMAN IN THE SEPTIC TANK ist ein intelligenter, temporeicher Spaß, der mit Sicherheit zu den Highlights des Festivals gezählt werden darf.

Beliebte Posts aus diesem Blog

Tora-san: Our Lovable Tramp / Otoko wa tsurai yo / Tora-San 1 (Yoji Yamada, Japan 1969)

Nach zwanzig langen Jahren des Umherstreifens kehrt Torajiro (Kiyoshi Atsumi) nach Hause zurück: nach Shibamata, einem Vorort von Tokyo. Seine Schwester Sakura (Chieko Baisho) lebt mittlerweile bei Onkel und Tante, da die Eltern verstorben sind. Dort wird er mit offenen Armen empfangen, auch wenn alle wissen, was er für ein Herumtreiber ist. Sakura steht kurz vor der Hochzeit mit dem Sohn eines reichen Industriellen. Somit wäre für ihre Absicherung gesorgt. Zum gemeinsamen Essen mit dessen Eltern nimmt sie Tora als Begleitung mit; das allerdings war ein Fehler: in fantastisch kopfloser Weise betrinkt er sich und ruiniert mit seiner gespielten weltläufigen Gesprächsführung die Zusammenkunft - er verstößt in jeder Form gegen die gebotene Etiquette. Wie er auch im Folgenden, wenn er sich in die Brust wirft, um etwas für andere zu regeln, ein pures Chaos schafft und alles durcheinander bringt. Der Film allerdings ist keine reine Komödie. Denn Tora werden die Verfehlungen vorgehal

Abschied

Micha hat diesen Blog fast 15 Jahre mit großer Leidenschaft geführt. Seine Liebe zum asiatischen Kino hat ihn in dieser Zeit in Kontakt mit ganz unterschiedlichen Menschen gebracht. Viele von euch waren ihm, wenn auch nicht räumlich, so doch gedanklich und emotional sehr nah. Jetzt ist er am 30.12.2021 zuhause in Bonn gestorben. Ich habe mich entschlossen, Michas Schneeland-Blog auch in Zukunft nicht offline zu stellen. So können Interessierte weiterhin all die klugen, detailgenauen und begeisternden Gedanken zum asiatischen Kino nachlesen, die er über die Jahre festgehalten hat.  Neben seinem Blog hatte Micha 2021 noch ein neues Projekt aufgenommen: Gemeinsam mit der Videokünstlerin Sandra Ehlen und Thomas Laufersweiler von SchönerDenken hatte er begonnen, in einem Podcast das filmische Werk von Keisuke Kinoshita zu besprechen. 25 Beiträge sind so bis zu Michas Tod im Dezember noch entstanden. Alle zwei Wochen erscheint nun eine Folge dieser Kinoshita-Reihe. V ielleicht eine schöne

No Blood Relation / Nasanunaka (Mikio Naruse, Japan 1932)

Der etwa ein Jahr vor Apart from You entstandene Film Nasanu naka , Naruses erster Langfilm, ist unter den noch verfügbaren Stummfilmen eine deutlich ungehobeltere Produktion, als dessen recht bekannter Nachfolger. Schon die Eröffnungssequenz ist ein richtiger Tritt vor die Brust. Mit schnellen Schnitten und agiler Kamera wird die turbulente Verfolgung eines Taschendiebes gezeigt. Bevor der Dieb später auf offener Straße, so die komödiantische Auflösung, die Hosen herunterlässt um seine Unschuld zu beweisen (übrigens sehr zum Amusement der ebenfalls anwesenden jungen Damen, die aus dem Kichern nicht mehr herauskommen). Die Eröffnung aber ist gleich ein radikaler Reißschwenk über eine Straßenszene hinweg, hinein in eine schreiende Schrifttafel mit dem Ausruf: DIEB! Hier die Sequenz: Darauf die Verfolgung des Taschendiebes durch die alarmierten Passanten, die von der Straße zusammenkommen oder aus den umliegenden Geschäften herausstürzen, alles mit schnellen Schnitten m