Direkt zum Hauptbereich

Neerja (Ram Madhvani, Indien 2016)


Sonam Kapoor spielt die indische Stewardess Neerja Bhanot, die es mit ihrem heldenhaften Verhalten bei der Flugzeugentführung in Karatchi im September 1986 zu einigem Ruhm gebracht hat, als pakistanische Terroristen den Pan Am Flug Nr. 73 entführten. Obwohl etliche Passagiere ihr Leben verloren, hat sie es mit ihrem mutigen Einsatz geschafft, Hunderten von Menschen das Leben zu retten - nur um dann tragischerweise das eigene zu verlieren. Seither wird Neerja Bhanot wie eine Heilige verehrt und gilt als großes moralisches Vorbild in Indien. NEERJA ist nun die Verfilmung dieser Ereignisse und zugleich - in Ansätzen - ein Biopic über seine Heldin. Und obwohl Sonam Kapoor bislang nicht gerade als Charakterdarstellerin bekannt geworden ist, meistert sie ihre Rolle doch sehr beachtlich. Besonders in den immer wieder eingestreuten Flashbacks, die wirklich großartig in den Film eingepflegt wurden, die den Charakteren den notwendigen Hintergrund geben und sie mit glaubhafter Tiefe ausgestalten, kommt der Zuschauer auch den Figuren emotional näher, als der generische Thriller-Plot zunächst vermuten lassen würde. Da wird auf Neerjas Beziehung zu ihren Eltern eingegangen, zu ihrem Beinahe-Freund, den sie aber immer noch auf Distanz hält, da sie gerade erst aus einer Ehe geflohen ist mit einem Mann, der sie auf verschiedene Arten missbraucht und terrorisiert hat. Dies eine arrangierte Ehe durch ihren Vater, der sich vor Schuldgefühlen windet, als er seine Fehleinschätzung nicht mehr leugnen kann. Großartig auch Shabana Azmi, die Neerjas Mutter spielt, mit einer Souveränität und feinen Grandezza, die aus der Stärke ihres Charakters kommt, und die sie wie von innen zum Leuchten bringt. Ihre ganze schauspielerische Kraft zeigt sich dann spätestens ganz am Ende: da wird es dann auch der letzte Blinde mitbekommen, als sie vor der versammelten Trauergemeinde eine Rede für ihre verstorbene Tochter hält, und die Kamera mehrere Minuten lang ausschließlich sie im Bilde einfängt. Ein großartiger Monolog, fantastisch gespielt.

Weniger gelungen allerdings - neben einigen Momenten der Darstellung der völlig amateurhaft agierenden Polizei- und Sicherheitskräfte, wie auch der Piloten, die die Flucht ergriffen haben (da hat man wohl wieder ein paar Touristen von der Straße weg gecastet), die völlig überfordert und hilflos reagieren - ist die Musik. Häufig dramatisiert sie die Ereignisse etwas zu sehr, vor allem in den Thrillermomenten während der Entführung selbst. In den ruhigen Passagen jedoch wird zumeist der richtige Ton getroffen, zurückhaltend, leicht melodisch oder rhythmisch pulsierend wie ein Herzschlag, der dem Film einen eigenen Bio-Rhythmus zu geben scheint. Die eine oder andere kleine Melodie, die sich auch mal zum Song formen darf (aber kein Song & Dance nirgends, nur einmal ein klein wenig bei einer Party auf einem Kinderspielplatz), setzt sich durch. Insgesamt ist die agile Kamera, die nicht zu verwackelt ist, dicht an den Personen dran, und fängt vor allem in den Stadtbildern und in den Flashbacks äußerst atmosphärische Bilder ein.

Dass man am Anfang schon weiß, wie es am Ende ausgehen wird, tut dem Filmgenuss keinen Abbruch. Mehrere kleinere Detailereignisse überraschen immer wieder den Zuschauer, und die kurzweilige Szenenfolge verleiht dem Film generell ein recht hohes Tempo. Und dann natürlich noch die Ereignisse der Entführung selbst: vier radikale Palästinenser, Mitglieder der terroristischen Organisation Abu Nidal (einer Splittergruppe der PLO), stürmen die Maschine, die in Karatchi zwischengelandet ist, um sie nach Zypern umzuleiten und somit zu entführen. Ziel ist es, verschiedene Kumpane, die in Gefängnissen einsitzen, freizupressen. Dass die Piloten als erste flüchten und das Flugzeug, ihre Crew und ihre Passagiere zurücklassen, ist eine Katastrophe für die Entführer, da sie nun am Boden gefangen sind. Außerdem kann Neerja ihre Pläne durch geschicktes Taktieren immer wieder durchkreuzen und sabotieren. Dadurch gewinnt sie Zeit und kann Konfrontationen hinauszögern, sogar Unfrieden in der Gruppe der Entführer stiften, die keineswegs so homogen und zielstrebig skrupellos ist, wie man das zu Beginn annehmen würde. Eben daraus gewinnt der Film auch einen großen Teil seiner Spannung, wie Neerja es immer wieder gelingt, den Entführern ins Handwerk zu pfuschen. Der Film gerät dann eigentlich zu einem Kammerspiel, das zum Zerreißen gespannt ist. Wie der Sprengstoffgürtel, den die Terroristen an Bord geschmuggelt haben, und all die Waffen, mit denen sie schließlich die Passagiere zu erschießen beginnen, als auch der letzte Funken Geduld aufgebraucht ist. Denn die ganzen Spezialisten, die draußen in sicherem Abstand debattieren und Pressekonferenzen abhalten, sind nicht dazu in der Lage, in dieser Situation souverän zu handeln. Doch das Problem löst sich nicht von alleine. Wie dieser äußerst spannende Film eindrücklich zeigt.

Michael Schleeh

***

Beliebte Posts aus diesem Blog

Tora-san: Our Lovable Tramp / Otoko wa tsurai yo / Tora-San 1 (Yoji Yamada, Japan 1969)

Nach zwanzig langen Jahren des Umherstreifens kehrt Torajiro (Kiyoshi Atsumi) nach Hause zurück: nach Shibamata, einem Vorort von Tokyo. Seine Schwester Sakura (Chieko Baisho) lebt mittlerweile bei Onkel und Tante, da die Eltern verstorben sind. Dort wird er mit offenen Armen empfangen, auch wenn alle wissen, was er für ein Herumtreiber ist. Sakura steht kurz vor der Hochzeit mit dem Sohn eines reichen Industriellen. Somit wäre für ihre Absicherung gesorgt. Zum gemeinsamen Essen mit dessen Eltern nimmt sie Tora als Begleitung mit; das allerdings war ein Fehler: in fantastisch kopfloser Weise betrinkt er sich und ruiniert mit seiner gespielten weltläufigen Gesprächsführung die Zusammenkunft - er verstößt in jeder Form gegen die gebotene Etiquette. Wie er auch im Folgenden, wenn er sich in die Brust wirft, um etwas für andere zu regeln, ein pures Chaos schafft und alles durcheinander bringt. Der Film allerdings ist keine reine Komödie. Denn Tora werden die Verfehlungen vorgehal

HKIFF 2019 ~ Three Husbands (Fruit Chan, Hongkong 2018)

Im dritten Teil seiner Prostitutions-Trilogie , achtzehn Jahre nach Durian Durian (2000) und dem großartigen  Hollywood Hong Kong  (2001), verknüpft Hongkongs Independent-Regielegende Fruit Chan mehrere bisweilen schwer erträgliche Erzählstränge zu einem allzu offensiven Missbrauchsdrama.  Inhaltlich relativ komplex und stark verwoben mit seinem Handlungsort Hong Kong und den umliegenden chinesischen Provinzen, wird die Hauptfigur Ah Mui von der furchtlosen Chloe Maayan als geistig  leicht behindertes Tanka-Boot - Mädchen kongenial gespielt. Eine junge Frau, die von ihren drei Ehemännern an jeden dahergelaufenen Zahlungswilligen verkauft wird. Der Film ist allerdings ästhetisch unfassbar krude umgesetzt, vor allem wenn es um die Metaphorik für den Geschlechtsakt oder generell die weibliche Fruchtbarkeit geht, deren Bann sich "der Mann" wie schicksalshaft einfach nicht entziehen kann.  Die Inszenierung des weiblichen Geschlechts in seinen verschiedenen metaphorisie

Abschied

Micha hat diesen Blog fast 15 Jahre mit großer Leidenschaft geführt. Seine Liebe zum asiatischen Kino hat ihn in dieser Zeit in Kontakt mit ganz unterschiedlichen Menschen gebracht. Viele von euch waren ihm, wenn auch nicht räumlich, so doch gedanklich und emotional sehr nah. Jetzt ist er am 30.12.2021 zuhause in Bonn gestorben. Ich habe mich entschlossen, Michas Schneeland-Blog auch in Zukunft nicht offline zu stellen. So können Interessierte weiterhin all die klugen, detailgenauen und begeisternden Gedanken zum asiatischen Kino nachlesen, die er über die Jahre festgehalten hat.  Neben seinem Blog hatte Micha 2021 noch ein neues Projekt aufgenommen: Gemeinsam mit der Videokünstlerin Sandra Ehlen und Thomas Laufersweiler von SchönerDenken hatte er begonnen, in einem Podcast das filmische Werk von Keisuke Kinoshita zu besprechen. 25 Beiträge sind so bis zu Michas Tod im Dezember noch entstanden. Alle zwei Wochen erscheint nun eine Folge dieser Kinoshita-Reihe. V ielleicht eine schöne