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HKIFF 2017: VANITAS (Takuya Uchiyama, Japan 2016)


 Ein kleiner Independent-Film, der für den Fipresci-Preis nominiert war, ein Debüt-Film eines noch jungen, erst 24-jährigen Regisseurs. Ein dennoch souverän gemachtes, relativ stilles Alltagsdrama über vier neue Schüler an einem College in einer Provinzstadt. Man freundet sich an, erlebt gemeinsam ein paar Sachen, Krisen und den üblichen Alltagskram - nur um am Ende herauszufinden, dass man sich doch gar nicht so gut kannte, wie man zunächst vermutet hatte. Der Film endet dann auch in der Tragödie.

 Und so geht es in diesem Film mit seinen vier sympathischen Schauspielern letztendlich darum, wie einsam und zurückgezogen - trotz aller Freundschaft - jeder ist, wie diese individualisierte Gesellschaft heute funktioniert. Die japanische Gemeinschaft funktioniert deshalb so gut, da jeder seine eigene Individualität wegsperrt, niemals herauslässt. Denn wirklich kennen tut sich hier keiner, die vier Freunde sind sich fremde Freunde. Besonders markant ist das bei einem der Jungen, der in eklatanten Geldschwierigkeiten steckt, und sich mit mehreren Nebenjobs gerade so über Wasser halten kann. Man sieht es dann auch an seinen abgewetzten Klamotten, dass da was nicht stimmen kann.

 Nur einer der Freunde weiß darum, und dieser unterstützt ihn auch finanziell. Alle anderen ahnen vielleicht etwas, sagen aber nichts. Am Ende führt das in die Katastrophe. Eine wirkliche Gemeinschaft besteht nicht, und als dann auch noch ein zwielichtiger Geldeintreiber in Gestalt von Kiyohiko Shibukawa (LOVE & PEACE, LOWLIFE LOVE, YAKUZA APOCALYPSE) auftritt, der großmäulig und aggressiv in die Gruppe hineindrängt, dauert es nicht mehr lange, bis sie einer endgültigen Belastungsprobe ausgesetzt ist.

 Es gelingt Uchiyama sehr gut, eine Balance zwischen einem persönlichen, innerlichem Drama, das durch Rückzug in die Stille gekennzeichnet ist, und einer permanent darunterliegenden Spannung herzustellen. Man hat als Zuschauer ständig das Gefühl, dass bald etwas Gravierendes passieren wird. Dazu passen die relativ langen Einstellungen, die häufig leeren Bilder verlassener Räume (Klassenzimmer, Turnhallen, Pausenhöfe, Mensatische), die zurückhaltende Musik und die ständig zu Boden schauenden Darsteller. Wenn sie sich dann zum Basketball-Spielen in der Turnhalle treffen und etwas herumschreien, sich berühren und gegenseitig auch einmal angehen, dann wirkt das wie ein gewaltiger Einbruch in die Normen einer auf Distanzierung ausgerichteten Gesellschaft.

Michael Schleeh

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