Als Teinosuke Kinugasa 1954 in Cannes die Palme d'Or für seinen bahnbrechend schönen Historienfilm JIGOKUMON / THE GATE OF HELL (in Japan 1953) gewonnen hatte, da war er auch im Westen angekommen. Dabei hatte er filmhistorisch gesehen schon viel früher einen enorm wichtigen und über die Maßen beeindruckenden Film gedreht: ein avantgardistisches Meisterwerk, das sich völlig in den Wahnsinn einer verwirrten Psyche hineinschraubt - namens A PAGE OF MADNESS aka. KURUTTA IPPÊJI (1926). Nach einem Skript von Yasunari Kawabata, übrigens (dem Nobelpreisträger für Literatur und Autor derjenigen Erzählung, die diesem Blog seinen Namen gab).
Viel mehr kannte man nicht von Kinugasa; man wußte, dass er außerdem ein vielbeschäftigter Schauspieler war und zwar noch als onnagata (Frauendarsteller) begonnen hatte, übrigens beim Filmstudio Nikkatsu. Später förderte er die Karrier von Schauspieler Kazuo Hasegawa, der in den frühen Tagen des japanischen Kinos so etwas wie der erste Superstar wurde, und der in seinem GATE OF HELL die Hauptrolle spielte.
Filmplakat Jigokumon |
Zwei Jahre nach A PAGE OF MADNESS aber drehte er den bis heute weniger bekannten Film JUJIRO aka. THE SLUMS IN TOKYO, der in der Retrospektive zum Thema Licht und Schatten in der Cinematographie der diesjährigen Berlinale zu sehen ist. Die "Slums" sind hierbei übrigens das Stadtviertel Yoshiwara (ein Begriff, den der Japanunkundige etwa aus Fritz Langs METROPOLIS kennen könnte), das damals das Vergnügungsviertel in Edo war (Edo = Tokyo). Die Retrospektive basiert auf dem dicken Buch THE AESTHETICS OF SHADOW: LIGHTNING IN JAPANESE CINEMA von Daisuke Miyao, einem in den USA lebenden Japaner (Associate Professor an der NYU, der New York University). Das Buch liest sich nach einem sehr akademischen Auftakt dann irgendwann sehr flüssig, ist kundig geschieben und beschreibt sehr genau den Einfluss, den das amerikanische Kino, bzw. dessen Produktionsverhältnisse (insbesondere die Beleuchtung) auf die japanische Filmproduktion und so auf den japanischen Film an sich hatte. Da sich die Filmstudios, allen voran die Shochiku, in den frühen Tagen eben sehr an den US-Standards orientierte (zunächst am Niveau der Technik) - später dann natürlich auch schnell an den Themen und Motiven. Was man auch schön an dem von Yasujiro Ozu in der Retrospektive programmierten Film THAT NIGHT'S WIFE / Sono Yo No Tsuma (1930, 65 min) nachvollziehen kann; dieser mischt das Melodram mit einer Gangstergeschichte, die ursprünglich von einem amerikanischen Autor stammte, die dann in Japan übersetzt in einer Zeitschrift erschien.
Yasujiro Ozu: Sono Yo no Tsuma |
Die hartkontrastigen Bilder des Film Noir finden sich auch Kinugasas CROSSROADS, der fast die gesamte Spieldauer über in der Nacht oder im Halbdunkel angesiedelt ist. Und zwar in der Halbwelt des Yoshiwara-Distrikts. Da wird gesoffen und gefeiert, auch mal auf der Straße getanzt, der Mann erholt sich von den Strapazen des Alltags - und die Geisha, wir sind nicht mehr im Mittelalter, ist eben nicht mehr eine rein ästhetische Kunstfigur höchster Eleganz, sondern durchaus mitunter ein egoistisches, derbes Weibsstück, das sich aus Eigennutz nimmt, was sie weiterbringt. In eine solche Frau namens O-yume (= Frau der Träume, yume = Traum, "o" ist die förmliche Anrede) verliebt sich ein junger Herr, der mit seiner Schwester in einer heruntergekommenen Bude haust. Diese reibt sich auf in der Sorge um ihn - zurecht. Oyume hat mehrere Verehrer, da gibt es schonmal ein Keilerei und dann verletzt er sich schwer das Augenlicht bei einem Zweikampf. Die Frage ist, woher das Geld nun kommt fürs Überleben. Der schmierige Vermieter schaut bereits recht häufig vorbei, da man in den Zahlungen zurück ist. Die Schwester ist verzweifelt, und es ist doch klar, worauf es dann hinausläuft: dorthin, wo dem Mann sein Begehr ist. Speckig grinst er durch die riesige Zahnlücke.
Vor dieser existenziellen Bedrohungssituation spielt sich der Film ab. Allerdings ist JUJIRO mehr ein Traumgeflecht als ein stringenter, plotorientierter Handlungsfilm. Halluzinatorische Bilder werden da montiert vor rotierenden Glücksrad-Scheiben, lachende Gesichter in Großaufnahme, die bald zu Fratzen werden, und pulsierende Lichter, die einen beinahe erblinden lassen. Keineswegs ist CROSSROADS so radikal wie der völlig abstrakte Irrenhausfilm A PAGE OF MADNESS - aber er ist ein erschütterndes Meisterwerk visueller Gestaltung, eine permanente kreative Eruption. Aus der diesjährigen Retrospektive sollte man sich einige Filme ansehen, aber eines ist gewiss: dieser sollte dabei sein.
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