Direkt zum Hauptbereich

Berlinale 2014: Crossroads / Crossways / Jujiro (Teinosuke Kinugasa, Japan 1928)

Als Teinosuke Kinugasa 1954 in Cannes die Palme d'Or für seinen bahnbrechend schönen Historienfilm JIGOKUMON / THE GATE OF HELL (in Japan 1953) gewonnen hatte, da war er auch im Westen angekommen. Dabei hatte er filmhistorisch gesehen schon viel früher einen enorm wichtigen und über die Maßen beeindruckenden Film gedreht: ein avantgardistisches Meisterwerk, das sich völlig in den Wahnsinn einer verwirrten Psyche hineinschraubt - namens A PAGE OF MADNESS aka. KURUTTA IPPÊJI (1926). Nach einem Skript von Yasunari Kawabata, übrigens (dem Nobelpreisträger für Literatur und Autor derjenigen Erzählung, die diesem Blog seinen Namen gab). 



Viel mehr kannte man nicht von Kinugasa; man wußte, dass er außerdem ein vielbeschäftigter Schauspieler war und zwar noch als onnagata (Frauendarsteller) begonnen hatte, übrigens beim Filmstudio Nikkatsu. Später förderte er die Karrier von Schauspieler Kazuo Hasegawa, der in den frühen Tagen des japanischen Kinos so etwas wie der erste Superstar wurde, und der in seinem GATE  OF HELL die Hauptrolle spielte. 

Filmplakat Jigokumon
Zwei Jahre nach A PAGE OF MADNESS aber drehte er den bis heute weniger bekannten Film JUJIRO aka. THE SLUMS IN TOKYO, der in der Retrospektive zum Thema Licht und Schatten in der Cinematographie der diesjährigen Berlinale zu sehen ist. Die "Slums" sind hierbei übrigens das Stadtviertel Yoshiwara (ein Begriff, den der Japanunkundige etwa aus Fritz Langs METROPOLIS kennen könnte), das damals das Vergnügungsviertel in Edo war (Edo = Tokyo). Die Retrospektive basiert auf dem dicken Buch THE AESTHETICS OF SHADOW: LIGHTNING IN JAPANESE CINEMA von Daisuke Miyao, einem in den USA lebenden Japaner (Associate Professor an der NYU, der New York University). Das Buch liest sich nach einem sehr akademischen Auftakt dann irgendwann sehr flüssig, ist kundig geschieben und beschreibt sehr genau den Einfluss, den das amerikanische Kino, bzw. dessen Produktionsverhältnisse (insbesondere die Beleuchtung) auf die japanische Filmproduktion und so auf den japanischen Film an sich hatte. Da sich die Filmstudios, allen voran die Shochiku, in den frühen Tagen eben sehr an den US-Standards orientierte (zunächst am Niveau der Technik) - später dann natürlich auch schnell an den Themen und Motiven. Was man auch schön an dem von Yasujiro Ozu in der Retrospektive programmierten Film THAT NIGHT'S WIFE / Sono Yo No Tsuma (1930, 65 min) nachvollziehen kann; dieser mischt das Melodram mit einer Gangstergeschichte, die ursprünglich von einem amerikanischen Autor stammte, die dann in Japan übersetzt in einer Zeitschrift erschien.

Yasujiro Ozu: Sono Yo no Tsuma
Die hartkontrastigen Bilder des Film Noir finden sich auch Kinugasas CROSSROADS, der fast die gesamte Spieldauer über in der Nacht oder im Halbdunkel angesiedelt ist. Und zwar in der Halbwelt des Yoshiwara-Distrikts. Da wird gesoffen und gefeiert, auch mal auf der Straße getanzt, der Mann erholt sich von den Strapazen des Alltags - und die Geisha, wir sind nicht mehr im Mittelalter, ist eben nicht mehr eine rein ästhetische Kunstfigur höchster Eleganz, sondern durchaus mitunter ein egoistisches, derbes Weibsstück, das sich aus Eigennutz nimmt, was sie weiterbringt. In eine solche Frau namens O-yume (= Frau der Träume, yume = Traum, "o" ist die förmliche Anrede) verliebt sich ein junger Herr, der mit seiner Schwester in einer heruntergekommenen Bude haust. Diese reibt sich auf in der Sorge um ihn - zurecht. Oyume hat mehrere Verehrer, da gibt es schonmal ein Keilerei und dann verletzt er sich schwer das Augenlicht bei einem Zweikampf. Die Frage ist, woher das Geld nun kommt fürs Überleben. Der schmierige Vermieter schaut bereits recht häufig vorbei, da man in den Zahlungen zurück ist. Die Schwester ist verzweifelt, und es ist doch klar, worauf es dann hinausläuft: dorthin, wo dem Mann sein Begehr ist. Speckig grinst er durch die riesige Zahnlücke.

Vor dieser existenziellen Bedrohungssituation spielt sich der Film ab. Allerdings ist JUJIRO mehr ein Traumgeflecht als ein stringenter, plotorientierter Handlungsfilm. Halluzinatorische Bilder werden da montiert vor rotierenden Glücksrad-Scheiben, lachende Gesichter in Großaufnahme, die bald zu Fratzen werden, und pulsierende Lichter, die einen beinahe erblinden lassen. Keineswegs ist CROSSROADS so radikal wie der völlig abstrakte Irrenhausfilm  A PAGE OF MADNESS - aber er ist ein erschütterndes Meisterwerk visueller Gestaltung, eine permanente kreative Eruption. Aus der diesjährigen Retrospektive sollte man sich einige Filme ansehen, aber eines ist gewiss: dieser sollte dabei sein.




***

Beliebte Posts aus diesem Blog

Abschied

Micha hat diesen Blog fast 15 Jahre mit großer Leidenschaft geführt. Seine Liebe zum asiatischen Kino hat ihn in dieser Zeit in Kontakt mit ganz unterschiedlichen Menschen gebracht. Viele von euch waren ihm, wenn auch nicht räumlich, so doch gedanklich und emotional sehr nah. Jetzt ist er am 30.12.2021 zuhause in Bonn gestorben. Ich habe mich entschlossen, Michas Schneeland-Blog auch in Zukunft nicht offline zu stellen. So können Interessierte weiterhin all die klugen, detailgenauen und begeisternden Gedanken zum asiatischen Kino nachlesen, die er über die Jahre festgehalten hat.  Neben seinem Blog hatte Micha 2021 noch ein neues Projekt aufgenommen: Gemeinsam mit der Videokünstlerin Sandra Ehlen und Thomas Laufersweiler von SchönerDenken hatte er begonnen, in einem Podcast das filmische Werk von Keisuke Kinoshita zu besprechen. 25 Beiträge sind so bis zu Michas Tod im Dezember noch entstanden. Alle zwei Wochen erscheint nun eine Folge dieser Kinoshita-Reihe. V ielleicht eine sc...

Sleep Has Her House (Scott Barley, GB 2016)

"And the dark is always hungry." (Scott Barley) Scott Barley's apocalyptical drone-room of a film is a fascinating experience. Not only a film to watch, but definitely one to listen to, as the audio is almost as impressive as its pictures. Very often, the images are blurred in the beginning, but with the slightest movements of the camera, the picture does get clearer, more concrete, focused, but sometimes nothing happens at all, too. Nevertheless, the film feels very dynamic - it's a weird state of an inherent Bildspannung , a suspense (and tension that might rip apart) inside of the images themselves that keeps you totally immersed.  Static movement  of the camera might be the term of technique to describe the process of capturing those dreamlike images, which are almost incomprehensive at first, always hard to grasp. As there seems to be no plot, no dialogue, no actors, there are none of the usual narrative anchors that guide us through a film, or movie. O...

Aido: Slave of Love (Susumu Hani, Japan 1969)

Here are some pictures I took during a private screening of Susumu Hani's extremely rare and seldom seen feature film  AIDO - SLAVE OF LOVE , which is the movie Hani made after the famous NANAMI: INFERNO OF FIRST LOVE. The film is beautifully shot, completely absorbing and structurally abandoning all narrative consensus - it is somehow - for most of the time - a subjective trip into the mind of the protagonist Shusei (Kenzo Kawarasaki). As you can asume, a dreamlike state predominates the film; and with its' devotion to extensively focussing on the details of the body while making love, presented in detailed close-ups, aswell as its' beautifully daring setpieces, it reminded me to some extent of Toshio Matsumoto's experimental oeuvre, as for example in his short film PHANTOM . AIDO was submitted to the competition-section of the 19th Berlin International Film Festival (aka Berlinale) - a fact that is quite astonishing, if you consider the direction the main section of ...