Direkt zum Hauptbereich

Gangs of Wasseypur (Anurag Kashyap, Indien 2012) / pt. 1


Am Ende ist es ein Tanz im Feuer, im Feuergefecht, wenn Godfather Sardar Khan, Hauptfigur in diesem Epos, wie in einem Todesballett sich um sich selbst dreht, herumgewirbelt wird von den Kugeln, die seinen Körper durchlöchern. "The Killer" von John Woo fällt einem da ein, im Hintergrund die grellgelben Feuer- und Explosionswolken oder die Zeitlupentode bei Sam Peckinpah - bei Anurag Kashyap aber ohne das Pathos, das vielen westlichen Zuschauern zu pappig ist. Hier sind die Bilder grobkörnig, schlicht und direkt in ihrer Bedeutung, die nur sie selbst sind und als tiefere Lesart den Verweis auf die ihnen ähnlichen Filmbilder zulassen - aber nicht auf religiöse Elevatio, Verklärung oder gar auf eine Erlösung hinweisen. Und so ist auch der Begriff "Epos" eigentlich zu unscharf für diesen doch sehr langen Film, denn Epik trifft nicht den narrativen Gestus dieses Films, der in sich elliptisch ist, voller Auslassungen, sprunghaft, wenig erklärt und sowieso nicht wie ein klassisches Familienbild aufgebaut ist, auch wenn er hauptsächlich von den Generationen einer Familie erzählt.

Gut sechzig Jahre erzählte Zeit wird hier abgebildet, vor dem Hintergrund politischer Wirren, wie sie in Nordindien herrschten Anfang der fünfziger Jahre. Die im Titel genannten "Gangs" sind dann auch vielmehr verfeindete Familien, die in Rachefehden sich gegenseitig zu vernichten trachten. Erwähnter Sardar Khan steht bald im Zentrum der Erzählung, unsympathisch, monolithisch, egozentrisch, brutal. Ewige Rache hat er geschworen, um den Mord an seinem Vater zu vergelten. Rücksichtslos gegen andere, aber auch seine Libido kann er nicht im Zaume halten. Neben seiner Frau hat er noch eine Geliebte, die ein Kind von ihm bekommt. Auch diese Frau wird er zugrunde richten.

Eine wirkliche Sympathiefigur kommt erst spät mit seinem Sohn Faizal in den Film, gespielt vom umwerfenden Nawazuddin Siddiqui. Mit seiner wortkargen Präsenz dominiert er jede Szene, die er betritt. Er ist das Gesicht des indischen Independentfilms, wie öfters über ihn zu lesen ist. Dabei ist "Gangs of Wasseypur" keineswegs ein solcher, fürs große Kino habe Kashyap diesen Film gemacht, mit Geld aus Bollywood und für den internationalen Markt. Was nun auch gut funktioniert hat, siehe internationale Festivals, siehe DVD-Auswertungen. Eine generelle internationale Akzeptanz des zeitgenössischen indischen Kinos konnte aber auch dieser Film nicht lostreten und wird häufig wie ein lobenswerter Ausreißer behandelt. Schade, dass Imtiaz Alis "Highway" (gezeigt auf der Berlinale 2014) keine größeren Wellen schlug. Und aber: eigentlich wollte er nur Spaß haben mit diesem Film, so Kashyap, und er klebt tatsächlich etwas  weniger am individuellen Schicksal, der Tragödie eines Individuums, als etwa im ziemlich schönen Vorgänger "That Girl in Yellow Boots" (2010). Es ist dennoch eine zutiefst instabile Gesellschaft, die Kashyap in diesem großen und großartigen Wurf portraitiert, in der ein Leben in jeder Sekunde zu Ende gehen kann. Beruhigend ist auch das nicht gerade.

Michael Schleeh

Addendum: Internationale Fassungen (z.B. auf DVD) zweiteilen den Film in der Intermission. Im Original geht der Film also mit Pause über fünf Stunden. Hier habe ich aus Verfügbsarkeitsgründen nur den ersten besprochen.

***

Beliebte Posts aus diesem Blog

Abschied

Micha hat diesen Blog fast 15 Jahre mit großer Leidenschaft geführt. Seine Liebe zum asiatischen Kino hat ihn in dieser Zeit in Kontakt mit ganz unterschiedlichen Menschen gebracht. Viele von euch waren ihm, wenn auch nicht räumlich, so doch gedanklich und emotional sehr nah. Jetzt ist er am 30.12.2021 zuhause in Bonn gestorben. Ich habe mich entschlossen, Michas Schneeland-Blog auch in Zukunft nicht offline zu stellen. So können Interessierte weiterhin all die klugen, detailgenauen und begeisternden Gedanken zum asiatischen Kino nachlesen, die er über die Jahre festgehalten hat.  Neben seinem Blog hatte Micha 2021 noch ein neues Projekt aufgenommen: Gemeinsam mit der Videokünstlerin Sandra Ehlen und Thomas Laufersweiler von SchönerDenken hatte er begonnen, in einem Podcast das filmische Werk von Keisuke Kinoshita zu besprechen. 25 Beiträge sind so bis zu Michas Tod im Dezember noch entstanden. Alle zwei Wochen erscheint nun eine Folge dieser Kinoshita-Reihe. V ielleicht eine sc...

House Owner (2019) ‘ஹவுஸ் ஓனர்’ (directed by Lakshmi Ramakrishnan)

 Während der Regenzeit in Chennai geht ein zurückgezogen lebendes, älteres Ehepaar durch turbulente Zeiten. Anstatt sich den Lebensabend zu versüßen, sind sie in einer endlosen Spirale der Beziehungshölle gefangen - und zwar deswegen, weil der Ehemann an Alzheimer erkrankt ist. In dieser schwierigen Situation managt die Ehefrau den gesamten Haushalt - aber nicht nur das. Sie kümmert sich freilich um alles und erträgt auch die ruppige Art des ehemaligen Armeegenerals, der sich seiner eigenen Krankheit nicht bewußt ist. Die Schärfe in der Stimme, den ehemaligen Kasernenhof-Ton, hat er leider aber nicht vergessen.    Sriranjini ist dann auch die heimliche Protagonistin und generell die Hauptfigur in diesem aufs Nötigste reduzierten Drama, die alles überstrahlt - und sie meistert die Rolle großartig. Immer wieder bricht der Film aus der aktuellen Zeitschiene aus und springt hinüber auf eine andere, vergangene. Sie zeigt, wie es früher war. Wie sich die beiden kennenlernten...

Thittam Irandu (2021) ‘திட்டம் இரண்டு’ Directed by Vignesh Karthik

Thittam Irandu is a south Indian Tamil police procedural mixed with a nice love story that turns sour as the female detective investigates in a murder case and consecutively digs into the life of her new boyfriend . It is a very dark and atmospheric police procedural, with a hefty overstuffed script - but also with too many fade outs and accumulated scenes that make it almost impossible to find an organic flow in the long  run. It's getting quite annoying as it loses its 'natural rhythm' further down the road, if there's anything like that in filmmaking. Thittam Irandu could have been a lot better aswell with a little more effort especially in the sound department for there are endless repetitions of filler music. Wouldn't have been bad if it took care of the endless plot meanderings at the end aswell. But, there's good acting throughout, so I won't complain too much. Thittam Irandu is enjoyable for most of the running time, even though it starts to dra...