Sonam Kapoor spielt die indische Stewardess Neerja Bhanot, die es mit ihrem heldenhaften Verhalten bei der Flugzeugentführung in Karatchi im September 1986 zu einigem Ruhm gebracht hat, als pakistanische Terroristen den Pan Am Flug Nr. 73 entführten. Obwohl etliche Passagiere ihr Leben verloren, hat sie es mit ihrem mutigen Einsatz geschafft, Hunderten von Menschen das Leben zu retten - nur um dann tragischerweise das eigene zu verlieren. Seither wird Neerja Bhanot wie eine Heilige verehrt und gilt als großes moralisches Vorbild in Indien. NEERJA ist nun die Verfilmung dieser Ereignisse und zugleich - in Ansätzen - ein Biopic über seine Heldin. Und obwohl Sonam Kapoor bislang nicht gerade als Charakterdarstellerin bekannt geworden ist, meistert sie ihre Rolle doch sehr beachtlich. Besonders in den immer wieder eingestreuten Flashbacks, die wirklich großartig in den Film eingepflegt wurden, die den Charakteren den notwendigen Hintergrund geben und sie mit glaubhafter Tiefe ausgestalten, kommt der Zuschauer auch den Figuren emotional näher, als der generische Thriller-Plot zunächst vermuten lassen würde. Da wird auf Neerjas Beziehung zu ihren Eltern eingegangen, zu ihrem Beinahe-Freund, den sie aber immer noch auf Distanz hält, da sie gerade erst aus einer Ehe geflohen ist mit einem Mann, der sie auf verschiedene Arten missbraucht und terrorisiert hat. Dies eine arrangierte Ehe durch ihren Vater, der sich vor Schuldgefühlen windet, als er seine Fehleinschätzung nicht mehr leugnen kann. Großartig auch Shabana Azmi, die Neerjas Mutter spielt, mit einer Souveränität und feinen Grandezza, die aus der Stärke ihres Charakters kommt, und die sie wie von innen zum Leuchten bringt. Ihre ganze schauspielerische Kraft zeigt sich dann spätestens ganz am Ende: da wird es dann auch der letzte Blinde mitbekommen, als sie vor der versammelten Trauergemeinde eine Rede für ihre verstorbene Tochter hält, und die Kamera mehrere Minuten lang ausschließlich sie im Bilde einfängt. Ein großartiger Monolog, fantastisch gespielt.
Weniger gelungen allerdings - neben einigen Momenten der Darstellung der völlig amateurhaft agierenden Polizei- und Sicherheitskräfte, wie auch der Piloten, die die Flucht ergriffen haben (da hat man wohl wieder ein paar Touristen von der Straße weg gecastet), die völlig überfordert und hilflos reagieren - ist die Musik. Häufig dramatisiert sie die Ereignisse etwas zu sehr, vor allem in den Thrillermomenten während der Entführung selbst. In den ruhigen Passagen jedoch wird zumeist der richtige Ton getroffen, zurückhaltend, leicht melodisch oder rhythmisch pulsierend wie ein Herzschlag, der dem Film einen eigenen Bio-Rhythmus zu geben scheint. Die eine oder andere kleine Melodie, die sich auch mal zum Song formen darf (aber kein Song & Dance nirgends, nur einmal ein klein wenig bei einer Party auf einem Kinderspielplatz), setzt sich durch. Insgesamt ist die agile Kamera, die nicht zu verwackelt ist, dicht an den Personen dran, und fängt vor allem in den Stadtbildern und in den Flashbacks äußerst atmosphärische Bilder ein.
Dass man am Anfang schon weiß, wie es am Ende ausgehen wird, tut dem Filmgenuss keinen Abbruch. Mehrere kleinere Detailereignisse überraschen immer wieder den Zuschauer, und die kurzweilige Szenenfolge verleiht dem Film generell ein recht hohes Tempo. Und dann natürlich noch die Ereignisse der Entführung selbst: vier radikale Palästinenser, Mitglieder der terroristischen Organisation Abu Nidal (einer Splittergruppe der PLO), stürmen die Maschine, die in Karatchi zwischengelandet ist, um sie nach Zypern umzuleiten und somit zu entführen. Ziel ist es, verschiedene Kumpane, die in Gefängnissen einsitzen, freizupressen. Dass die Piloten als erste flüchten und das Flugzeug, ihre Crew und ihre Passagiere zurücklassen, ist eine Katastrophe für die Entführer, da sie nun am Boden gefangen sind. Außerdem kann Neerja ihre Pläne durch geschicktes Taktieren immer wieder durchkreuzen und sabotieren. Dadurch gewinnt sie Zeit und kann Konfrontationen hinauszögern, sogar Unfrieden in der Gruppe der Entführer stiften, die keineswegs so homogen und zielstrebig skrupellos ist, wie man das zu Beginn annehmen würde. Eben daraus gewinnt der Film auch einen großen Teil seiner Spannung, wie Neerja es immer wieder gelingt, den Entführern ins Handwerk zu pfuschen. Der Film gerät dann eigentlich zu einem Kammerspiel, das zum Zerreißen gespannt ist. Wie der Sprengstoffgürtel, den die Terroristen an Bord geschmuggelt haben, und all die Waffen, mit denen sie schließlich die Passagiere zu erschießen beginnen, als auch der letzte Funken Geduld aufgebraucht ist. Denn die ganzen Spezialisten, die draußen in sicherem Abstand debattieren und Pressekonferenzen abhalten, sind nicht dazu in der Lage, in dieser Situation souverän zu handeln. Doch das Problem löst sich nicht von alleine. Wie dieser äußerst spannende Film eindrücklich zeigt.
Michael Schleeh
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