Eine Außenseiterbande stürzt ein Provinznest in Verwirrung ~ Naoko Ogigamis Komödie YOSHINO'S BARBER SHOP (Japan, 2004)
Bereits in Naoko Ogigamis Debüt-Film lassen sich viele Elemente finden, die sie in ihren späteren Filmen immer weiter ausgebaut und verfeinert hat. Alltagskomödien mit einem Schuss Quirkyness, die japanische Besonderheiten aufs Korn nehmen - so könnte man ihre Filme vielleicht ganz einfach umreißen. Hinter dieser scheinbar simplen Oberfläche aber lauert eine tiefere Schicht, eine größere Bedrohung: Einsamkeit, Verlorensein, an einem fremden Ort neu anfangen müssen (Expatriation), eine Familienkonstellation, die zerbrechlich ist. Die Bedrohungen von außen, durch die Gesellschaft. Hier, in YOSHINO, ist es vor allem die Gleichschaltung unter dem Deckmäntelchen der Kultur und Tradition, der sich Ogigami angenommen hat.
Wer das Filmplakat studiert, sieht schnell, dass die Kinder alle denselben Haarschnitt tragen. Den bekommen sie freilich in YOSHINO'S BARBER SHOP von der resolut spielenden Masako Motai verpasst, die man aus eigentlich allen anderen Filmen der Regisseurin bereits kennt. Hier ist sie sehr agil, durchsetzungskräftig, kann sogar via Tai Chi die Winde herbeirufen und mit Willenskraft den Strom wieder anstellen. Vor allem aber hat sie ihre Familie unter der Fuchtel, den Rektor der Schule, ja, eigentlich alle, die alltäglich an ihrem Laden vorbeikommen, vor dem sich die blau-rot gestreifte Friseursbanderole dreht. Auch über das Mikrofon und die Lautsprecher im Örtchen herrscht sie, über das sie die Neuigkeiten des Tages verkündet, den Feierabend ausruft, und generell kluge Sprüche zum besten gibt, die mal an Mobilmachung erinnern, mal mahnenden Charakters sein können.
Nun gut, alle Jungen in diesem Provinznest tragen also den Yoshino-gari, eine Frisur, die dem Bubi-Kopf nicht unähnlich ist und nur bedingt gut kleidet. Er ist auch viel Anlass zum Spott von den Kindern der umliegenden Dörfer. Doch eines Tages wird die wohlgesittete Ordnung durcheinandergewirbelt. Enter: der Junge aus Tokyo, ein neuer Schüler, auf den die Mädchen fliegen, der eine irre moderne Frisur hat, gebleichte Haare, und sogar seinen eigenen Kopf zum Denken benutzt. Dieser Junge denkt freilich gar nicht daran, sich gleichschalten zu lassen und zum Haareschneiden einzufinden, auch wenn er noch so viel Druck von allen Seiten bekommt. Eine Jungsbande nimmt den Außenseiter bald unter ihre Fittiche (er hat ein paar Schmuddelhefte zu verschenken, okay, das lockt sie natürlich auch an), denn er entwickelt bald schon interessante Gedanken zu Individualität und Unabhängigkeit - er ist generell selbstständig und gesellschaftskritisch eingestellt. Warum überall mitmachen, nur weil es "Tradition" ist? Wer sagt eigentlich, was hier Tradition ist? Schnell entlarvt er einige Mechanismen als wohlfeile Methoden der Erwachsenen, die Jugendlichen im Zaume zu halten, eine "Ordnung" aufrecht zu erhalten, die Vielfalt unterdrückt und Kreativität hemmt.
Konsequenterweise ist der Dorf-Irre (ein weiterer Außenseiter) eine der ganz wenigen männlichen Figuren des Films, der lange Haare hat. Er ist eine überzeichnete Mischung aus groteskem Opernsänger und Lolita-Imitat, den der Weisheitszahn schmerzt. Kein Wunder, denn das darf man ebenso metaphorisch lesen. Hinter all dem Firlefanz, wie er sich gibt, hinter all dem Gehabe, das die Kinder erschreckt, ist er vor allem eines: ein klein wenig weise, ein unabhängiger Geist. Doch die Jungen kommen schon noch dahinter, was hier wirklich los ist - was wirklich daneben ist und was man nur schlecht redet, um es zu verdrängen.
Naoko Ogigami liebt ihre Figuren, das merkt man ihren Filmen an. Und hier ist es nicht anders. Man weiß, dass alles sich zum Guten wenden wird. Irgendwie. Was aber überhaupt nicht stört. Denn der Film zeigt sie auf, die Risse und Brüche, die durch die Figuren gehen, das Ringen mit den Vorbildern und den Verboten - dabei den eigenen Bedürfnissen zu folgen, ohne dabei gleich eine Revolution zu entfachen. Oder, eben doch mal kurz eine kleine, wenn es sein muss. Auch wenn man Angst hat vor den Folgen. Und vor der Obâsan, die mit strengem Blick am Schulweg steht. Klar, dass man da auch mal ausbrechen muss, denn sonst lernt man es nie.
Michael Schleeh
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