Direkt zum Hauptbereich

River Town - Two Years on the Yangtze (David Hessler, 2001)



 1996: Die Stadt Fuling am Yangtze während des Baus des Drei-Schluchten-Staudamms. Der junge Amerikaner David Hessler kommt als Englischlehrer im Rahmen des US-Peacecorps-Programms in diese Stadt, in die sich sonst kaum ein Ausländer verirrt, in der sich aber vor allem noch nie ein Amerikaner wirklich längere Zeit aufgehalten hat. Es ist ein Kulturschock für beiden Seiten. Im Laufe der zwei Jahre, in der Hessler sich weitmöglichst versucht, auf Land und Leute, Sprache und Essgewohnheiten, Menschen, Rituale und Traditionen einzulassen, erkennt er bis zum Schluß immer wieder, stetig frustrierter werdend, daß er immer der Fremde bleiben wird. Trotz der Freundschaften, die geknüpft werden, der Bindungen die entstehen, und all der persönlichen Entbehrungen, die er im Dienst seines Anspruchs erträgt.

 Das Tolle am Buch, das sich in Kapitel zwischen dem "aktuellen" Erzählstrang der erlebten Ereignisse und essayartigen Einwürfen über Land und Leute, Traditionen und Religion abwechselt, ist, daß es ihm gelingt, einen beinah immer arroganzfreien Zugang zum Neuen zu finden - und um ihn herum ist alles fremd. Auch das Festhalten von Momenten des Verstörtseins gleitet NIE in den billigen Reisebuchhumor ab, unter dem so viele Publikationen der letzten Jahre leiden, deren Autoren ach so verschmitzt in fremde Kulturen hineinriechen. 

 Zugleich aber dokumentiert er den Fortgang des Bauprojekts: wie es das Leben der Menschen beeinflußt, welche Konsequenzen daraus erwachsen - auch für die zahlreichen Kulturgüter, die schlicht vom Erdboden verschwinden. Da liest man Dinge, die man sich nicht hätte vorstellen können. Das Thema Politik kommt ebenso offen zur Sprache, und verliert sich weder in platten Anklagen eines Unrechtsystems, noch in schulbuchartigen Lektionen; Politik am Beispiel eines Trinkfestes mit den Kadern - in diese Richtung.

 Besonders im Gedächtnis aber bleiben die Momente, in denen er von seinen Schülern erzählt, ihren Aufsätzen, ihren Nöten und Bedürfnissen. Von einem 10 km - Lauf auf den Raise the Flag-Mountain. Vom Besuch der Nudelbar und der Herzlichkeit der Menschen, die vielleicht zu so etwas wie Freunden werden. Von der Bootsfahrt nach Chongqing. Da entfaltet sich nach und nach das Panorama einer Region, eines Moments in der Geschichte, in der sich ein Ausländer einer ihm völlig fremden Kultur nähert, demütig und wissbegierig, der frustriert ist von der Fremdheit der Sprache und der offen genug ist, das Fremde zu umarmen. Sehr lesenswert.

Michael Schleeh

***
 

Beliebte Posts aus diesem Blog

Tora-san: Our Lovable Tramp / Otoko wa tsurai yo / Tora-San 1 (Yoji Yamada, Japan 1969)

Nach zwanzig langen Jahren des Umherstreifens kehrt Torajiro (Kiyoshi Atsumi) nach Hause zurück: nach Shibamata, einem Vorort von Tokyo. Seine Schwester Sakura (Chieko Baisho) lebt mittlerweile bei Onkel und Tante, da die Eltern verstorben sind. Dort wird er mit offenen Armen empfangen, auch wenn alle wissen, was er für ein Herumtreiber ist. Sakura steht kurz vor der Hochzeit mit dem Sohn eines reichen Industriellen. Somit wäre für ihre Absicherung gesorgt. Zum gemeinsamen Essen mit dessen Eltern nimmt sie Tora als Begleitung mit; das allerdings war ein Fehler: in fantastisch kopfloser Weise betrinkt er sich und ruiniert mit seiner gespielten weltläufigen Gesprächsführung die Zusammenkunft - er verstößt in jeder Form gegen die gebotene Etiquette. Wie er auch im Folgenden, wenn er sich in die Brust wirft, um etwas für andere zu regeln, ein pures Chaos schafft und alles durcheinander bringt. Der Film allerdings ist keine reine Komödie. Denn Tora werden die Verfehlungen vorgehal

Abschied

Micha hat diesen Blog fast 15 Jahre mit großer Leidenschaft geführt. Seine Liebe zum asiatischen Kino hat ihn in dieser Zeit in Kontakt mit ganz unterschiedlichen Menschen gebracht. Viele von euch waren ihm, wenn auch nicht räumlich, so doch gedanklich und emotional sehr nah. Jetzt ist er am 30.12.2021 zuhause in Bonn gestorben. Ich habe mich entschlossen, Michas Schneeland-Blog auch in Zukunft nicht offline zu stellen. So können Interessierte weiterhin all die klugen, detailgenauen und begeisternden Gedanken zum asiatischen Kino nachlesen, die er über die Jahre festgehalten hat.  Neben seinem Blog hatte Micha 2021 noch ein neues Projekt aufgenommen: Gemeinsam mit der Videokünstlerin Sandra Ehlen und Thomas Laufersweiler von SchönerDenken hatte er begonnen, in einem Podcast das filmische Werk von Keisuke Kinoshita zu besprechen. 25 Beiträge sind so bis zu Michas Tod im Dezember noch entstanden. Alle zwei Wochen erscheint nun eine Folge dieser Kinoshita-Reihe. V ielleicht eine schöne

No Blood Relation / Nasanunaka (Mikio Naruse, Japan 1932)

Der etwa ein Jahr vor Apart from You entstandene Film Nasanu naka , Naruses erster Langfilm, ist unter den noch verfügbaren Stummfilmen eine deutlich ungehobeltere Produktion, als dessen recht bekannter Nachfolger. Schon die Eröffnungssequenz ist ein richtiger Tritt vor die Brust. Mit schnellen Schnitten und agiler Kamera wird die turbulente Verfolgung eines Taschendiebes gezeigt. Bevor der Dieb später auf offener Straße, so die komödiantische Auflösung, die Hosen herunterlässt um seine Unschuld zu beweisen (übrigens sehr zum Amusement der ebenfalls anwesenden jungen Damen, die aus dem Kichern nicht mehr herauskommen). Die Eröffnung aber ist gleich ein radikaler Reißschwenk über eine Straßenszene hinweg, hinein in eine schreiende Schrifttafel mit dem Ausruf: DIEB! Hier die Sequenz: Darauf die Verfolgung des Taschendiebes durch die alarmierten Passanten, die von der Straße zusammenkommen oder aus den umliegenden Geschäften herausstürzen, alles mit schnellen Schnitten m