Der sympathische Minenarbeiter Dao (Jiang Wu) schultert irgendwann
das Gewehr, als es ihm schließlich reicht. Eingepackt hat er die Waffe
in eine Decke mit dem Motiv eines Löwen, der dann auch einmal
überraschend brüllt (eine der schönen irrealen Spitzen, in die es die
Filme Jias immer wieder hineintreibt). Und so geht er durch eine
Kleinstadt in der Provinz Shanxi um dem korrupten Minenbesitzer, der
nichts Besseres zu tun hat, als mit seinem Wohlstand zu protzen, seine
Meinung zu geigen. Aus dem Reden, dem vergeblichen, und dem Arbeitskampf
um Besserung der Verhältnisse für die Kohlenkumpel war freilich nichts
geworden und Dao hat beschlossen, dass er das nicht mehr mit sich machen
lässt.
Vorher aber schon war er bei einem umgekippten Tomatenlaster einem
Mopedfahrer begegnet, einem Wanderarbeiter, der von drei jugendlichen
Kriminellen überfallen worden war. Dieser aber hatte sich ebenfalls
gewehrt und die drei Diebe kurzerhand erschossen. Der Film wird später
diesem Mann auf seinem Schicksalsweg folgen, wie er zu seiner eigenen
Familie zurückkehrt nach Jahren, vermutlich wieder nach Fengjie nördlich
des Drei-Schluchten-Staudamms am Yangtze. Ein Ort, der die zentrale
Rolle in Jias Meisterwerk STILL LIFE spielte, eine in den Fluten des
Flusses versinkende Stadt, wo sich ebenfalls die Geschichten von
Menschen kreuzten, die etwas verloren hatten und die sich nun auf einer
Suche befinden.
Jia Zhangke ist der Chronist eines modernen Chinas, in dem sich der
Kapitalismus hemmungslos ausbreitet und die Menschen wie auszubeutendes
Vieh aussaugt und verheizt. Es sind aber zugleich auch Filme, die einen
Alltag portraitieren, der seine beiläufige Gewöhnlichkeit noch nicht
verloren hat. Sie schaffen es immer wieder, in den Menschen selbst oder
gerade in den unbedeutenden Kleinigkeiten am Wegesrand eine besondere,
erzählenswerte Schönheit zu entdecken. Es sind keineswegs die
ohnmächtigen Filme eines kapitulierenden und melancholischen
Künstlergemüts, sondern vielmehr kraftvolle Filme eines Aufbegehrenden
und somit selbst in der Tristesse oft sanfte Zustandsbeschreibungen, die
ihre Spannung aus der Darstellung des Schrecklichen und des Schönen
zugleich gewinnen. So erlangen die Filme Jias ihre Reibungsflächen
insbesondere durch ihre Bildspannung, die sich aus der
Kontroverse zwischen der Schönheit und Würde des Filmbildes im
Verhältnis zum abgebildeten Motiv ergeben. Ohne seinen Kameramann Yu
Lik-wai wäre Jia Zhangke nicht der, der er heute ist. Ein Mann, der eine
gottverlassene, staubige Landstrasse im Nirgendwo auf eine Weise
abbilden kann, dass man sofort darauf entlang gehen möchte.
Jia also bleibt seiner filmischen Methode treu, es haben die
Geschichten gewechselt – und sich radikalisiert. Die Gewaltausbrüche,
mit denen man es hier zu tun bekommt, sind, ja, schockierend. Sie kommen
mit einer Urplötzlichkeit, die an an die Filme Takeshi Kitanos erinnern
(mitproduziert hat übrigens auch das Office Kitano), und mit einer
Intensität, wie man sie von Jia bislang so noch nicht kannte. Besonders
markant etwa in der Episode, die von einer Rezeptionistin in einem
Sauna- und Massagesalon erzählt, wieder höchst eindrucksvoll gespielt
von Jias Ehefrau und Stammschauspielerin Tao Zhao. Diese hat sich vor
Jahren unglücklich in den Chef eines industriellen Betriebs, einer
Näherei (?), verliebt und die ewigen Kurzbesuche genügen ihr nicht mehr.
Sie fordert eine Scheidung und eine Entscheidung von ihm, vor allem
auch deswegen, da sie einen immer stärker werdenden Kinderwunsch
verspürt. Er aber bittet sich erneut Bedenkzeit aus und frustriert gehen
sie auseinander. Eines nachts dann im Etablissement wird sie von zwei
Gästen zum Beischlaf gebeten. Als sie ihnen diesen Wunsch mit der
Begründung, sie sei keine Masseuse, abschlägt, werden die Männer
zudringlich – und dann gewalttätig. In einer höchst eindrücklichen Szene
wird sie von einem der beiden mit einem dicken Bündel Geldscheine
verprügelt, während dieser erbost auf sie einschreit, er könne sich alles kaufen mit seinem Geld. Da weiß sie sich nicht anders zu wehren, als...
***