Bereits zum vierten Mal werde ich dieses Jahr am Festival teilnehmen, und da verwundert es mich nicht, wenn ich dem Ereignis mit viel Vorfreude, aber auch mit einer gewissen Gelassenheit entgegensehe. Es ist einfach gut zu wissen, dass man hier so viel erleben kann, selbst wenn man mal überhaupt keine Lust mehr auf Kino haben sollte. In diesem unwirklichen Szenario ist man gut aufgehoben: zum Beispiel könnte man sich auch die kleineren Attraktionen der Stadt einmal gönnen, die sonst gerne hinten runter fallen. Zum Beispiel mal nach Whampoa fahren, das liegt hinter Hung Hom, denn dort liegt inmitten der Hochhaussiedlungen ein Kreuzfahrtschiff herum. In diesem ist freilich eine Mall untergebracht, in der man - wie überall in Hongkong - alles kaufen kann, was das Herz begehrt. Gegenüber liegt noch ein Einkaufszentrum mit dem "Golden Harvest-Cinema", das aber irgendwie nur so heißt, dass man das Herzflattern bekommt - es ist ein ganz normales Multiplex. Von klassischem Kampfkunstfilm der goldenen Ära ist hier nichts zu verspüren. Hier schauen sich Eltern mit ihren Sprößlingen die Smurfs an und schmatzen Popcorn dazu.
Das Festival fährt dick auf dieses Jahr: mit den tollsten Filmen der Berlinale ausgestattet, sowie einer - wie es scheint - komplett ausverkauften Edward Yang-Retrospektive (teilweise restauriert). Besonders toll auch die Reihe Paradigm Shift: post-97 Hong Kong Cinema, die eine Überwindung der Krise nach dem Handover an China suggeriert, und in der besonders charakteristische Filme dieser Zeit laufen: von Shaolin Soccer, Running on Karma, Full Alert und Infernal Affairs kann man hier so etliches (wieder-) sehen und neu entdecken, was mittlerweile schon wieder als klassisches Kino gilt. Aber auch andere supertolle Sachen aus dem Bereich Weltkino lassen sich über die Sektionen verstreut finden: etwa Brillante Mendozas Ma' Rosa, Kleber Mendoza Filhos Aquarius, Safari von Ulrich Seidl, Sieranevada von Cristi Puiu, Daguerrotype von Kiyoshi Kurosawa oder auch Revenger (aka. The Assignment) von Walter Hill. Und bevor man's vergisst: wer etwas mehr Sitzfleisch hat, der darf sich Lav Diaz' The Woman who Left gönnen.
Unmöglich das alles unterzubringen in einer Woche oder zehn Tagen, und da es noch nicht genug ist, so läuft im regulären Kino zum Beispiel an: Mad World von Wong Chun (mit Eric Tsang und Shawn Yue), On the Beach at Night Alone von Hong Sang-soo, Antiporno von Sion Sono, und schließlich auch noch Herman Yaus Shock Wave mit Andy Lau, der in der Stadt beworben wird wie ein neuer James Bond. Auf dem Festival läuft zeitgleich ein ebenso neuer Film von ihm: 77 Heartbreaks. Da bleibt nur eines: sich entspannen, vielleicht zur Chi Lin Nunnery rauszufahren, und ein wenig beten. Das ist alles nur mit buddhistischem Gleichmut auszuhalten. Nach dem Sushi und vor dem Bibimbap, eh klar.
Michael Schleeh
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