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Für alle sichtbar und dennoch weit weg: Die Ladenhüterin (Sayaka Murata, 2018)


Normalität setzt sich gewaltsam durch, Fremdkörper werden einfach beseitigt.
Menschen, die nicht richtig funktionieren, werden entsorgt.

 Nach gut der Hälfte dieses enorm sympathischen Romans findet die eigenbrötlerische Ich-Erzählerin Keiko Furukura zu diesen klaren und harten Worten, die gewissermaßen als Sentenz dem ganzen Roman zugrunde liegen. Und die zugleich eine gesellschaftliche Analyse darstellen, die ebendieser Gesellschaft ein äußerst negatives Zeugnis bescheinigen.

 Keiko hatte sich schon als Kind als Außenseiterin gefühlt. Sie hat Ereignisse verstörend anders wahrgenommen, als die anderen Kinder um sie herum. Und sie hat nicht so reagiert, wie es sich gehört. Früh also war sie ein "auffälliges Kind" geworden, das man unter Beobachtung stellte, und für das sich die Eltern entschuldigen mussten. Um ihrem Umfeld weitere Konflikte zu ersparen, hatte sie sich daraufhin extrem in sich selbst zurückgezogen und jeden gesellschaftlichen Kontakt weitestgehend vermieden. Und wie es sich ergeben hat - verloren, eines Abends als junge Studentin auf dem Weg nach Hause - hat sie sich bei einem neu eröffnenden Convenience-Store beworben. Dort ist sie hängen geblieben, weil es der einzige Ort auf der Welt für sie zu sein schien, an dem sie "funktionieren", wo sie als soziales Wesen - gerade aufgrund der vielen Regeln - überleben konnte. Und dann wollte sie dort nie wieder weg.

 Die Ladenhüterin ist ein Sensationserfolg in Japan, ausgezeichnet mit mehreren Preisen, vor allem aber mit dem wichtigsten Literaturpreis des Landes: dem Akutagawa-Preis, benannt nach dem großen, klassischen japanischen Autor Ryunosuke Akutagawa (vielfach auch ins Deutsche übersetzt). Dass dies schmale Bändchen auch in Deutschland so einschlagen würde, hätte man zunächst einmal nicht vermutet (die Übersetzung ins Französische ist auch schon verfügbar, die Englische folgt im Herbst), bildet der Roman doch einen uns fremden Mikrokosmos ab, der zunächst einmal nichts mit der europäischen Lebenswelt gemein hat. Denn: hier gibt es keine solchen Convenience-Stores wie in Japan. Der berliner Späti oder das kölner Büdchen lassen sich in keinster Weise mit einem solchen Geschäft vergleichen.

 Vermutlich liegt es an zwei anderen Punkten: erstens, weil der Roman ein generelles Verlorensein des Ichs in einer stark reglementierten Welt behandelt, und diese Erfahrung universal sein dürfte. Und zweitens: weil jeder Japan-Reisende, der schon einmal dort war, diese Convenience-Stores lieben gelernt hat, als Angel- und Rettungspunkt in beinahe jeder Situation seiner Reise durch das fremde Land. Denn dort gibt es beinahe alles, was man zum Leben braucht. Und man muss es so sagen: selbst das "Sushi" in seinen unterschiedlichsten Ausprägungen, nennen wir es der Einfachheit halber so, ist fast immer deutlich besser, als das, was man bei uns im Restaurant "beim Asiaten" auf den Tisch bekommt. Und das für kleines Geld. Für viele Japan-Reisende ist der Convenience-Store das erste echte Gateway to Japan, auch wenn es keiner zugeben will. Und diese Stores gibt es natürlich überall in Asien, in Korea, China, Hong Kong, Thailand, usw. Nur: nirgends ist das Essen so gut wie in Japan.

 Keiko ist die dabei eine zweifache "Ladenhüterin": zum einen ist sie zum Zeitpunkt der Erzählung seit 18 Jahren die einzige Angestellte, die seit Eröffnung des Laden immer noch dabei ist. Was natürlich für alle verwunderlich ist, da dieser Beruf eher als Aushilfsjob angesehen wird und nicht gerade mit hohem Prestige gesegnet ist. Ihre Eltern, die Reste des sozialen Umfelds (sie trifft sich ab und an mit ehemaligen Freundinnen von der Universität oder der Schulzeit), wie auch ihre jüngere Schwester sind besorgt, da sich Keiko überhaupt nicht weiter zu entwickeln scheint. Wobei dieses Weiterentwickeln ganz klar gesellschaftlich geregelt ist (und das ist der zweite "Ladenhüterin"-Aspekt): entweder Heiraten und Kinder kriegen, oder Karriere machen. Alles andere ist verdächtig, fällt aus der Norm. Dabei geht es Keiko eher um ein Überleben im Alltag. Das sieht aber keiner so richtig. Vermutlich war sie noch nicht einmal richtig verliebt in ihrem Leben. Hinter diese Trauer sieht aber keiner, diese verbirgt sie gut vor allen.

 Ein durch und durch trauriger Roman also, der hinter seiner leichten Sprache und seinem sanften Humor, der immer wieder hervorblitzt, dem Leser eine ziemlich bedrohte Existenz vorführt, die aufgrund der gesellschaftlichen Anforderung stets zu zerbrechen droht. Im Endeffekt ist Keiko nicht so viel anders wie die Anti-Helden Haruki Murakamis, die sich von der Gesellschaft abwenden und sich in die Peripherie oder die Einsamkeit aufmachen. Die sich eine Auszeit nehmen oder ohnehin schon sich an den Rändern der Gesellschaft aufhalten. Ganz ähnlich wie bei Murakami, gerät am Ende des Romänchens Sayaka Murata ebenso die eine oder andere Lebenweisheit etwas überdeutlich formuliert, insbesondere in den Diskussionen mit dem durchgeknallten, zynischen Shiraha, mit dem Keiko ein obskures Verhältnis eingeht.

 Keiko zieht sich jedenfalls zurück: und zwar in sich selbst. Im hellen Licht des Alltags, für alle sichtbar und dennoch weit weg. Sie geht sogar so weit, den Sprachgebrauch ihrer Kolleginnen zu imitieren, oder deren Kleidungsstil. Mit ihrer eigenen Identität sich hinter der Adaption der anderen zu verstecken. Die Erzählerin beschreibt den Store häufig als Aquarium, als vor Licht schimmernde Rettungsinsel, die ihr eine Sicherheit zum Überleben bietet - eine Insel, in der sie zwar gut sichtbar ist, aber wo sie in der Einheit des Teams, den strengen Regeln, der gesichtslosen Tätigkeit aufgehen kann und unsichtbar wird. Verschwunden im hellsten Tageslicht. Es ist eine Tragödie.

Michael Schleeh

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