Der Film beginnt mit der Außenansicht eines kleinen Wohnhauses, leicht heruntergekommen, wie es in vielen Ortschaften auf dem Land zu finden ist. Ein paar rote Flecken, die einsamen Blumen vor der Tür. Heraus stakst der Großvater, sichtlich aufgebracht, im Mantel, bereit weg zu gehen. Seine Hüfte ist kaputt, ein Bein zieht er stark nach. Haru kommt dann heraus, sie schreit ihm nach, hat eine rote, gesteppte Jacke an und einen Ruksack auf dem Rücken. Sie rennt hinter ihm her, er hört sie nicht in seiner Wut, die Kamera schwenkt, man sieht, sie sind am Meer, ein Fischerdorf, der Wind bläst, die Küste. Ein Jahr vor Fukushima, ein Jahr vor den Flutwellen des Erdbebens. Jetzt ist das alles Geschichte, der Film ein Dokument.
Wie der Ort genau heißt, erfährt man nicht im Film. Es muss aber nördlich von Sendai sein, denn dort stehen sie wenig später am Bahnhof, irgendwo auf dem Weg nach Ishinomaki, eine Stadt, die traurige Berühmtheit deswegen erlangt hat, da die Zerstörung des Tsunami dort am größten war. Haru jedenfalls (gespielt von Eri Tokunaga) ist Anfang zwanzig und hat ihren Job verloren, will nach Tokyo und kann sich nun nicht mehr um den Großvater kümmern (großartig: Tatsuya Nakadai), der alleine nicht mehr zurecht kommt. Oder nicht mehr zurecht kommen will. Er ist ein Eigenbrötler und ein Hitzkopf, rauhe Schale weicher Kern - doch bis man dorthin vorstößt, müssen einige Filmmeter geschaut werden.
Harus Reise ist lang, über zwei Stunden, und recht ruhig dazu. Liest man überall, dabei ist ganz schön viel los. Die Tonspur klebt alles zu mit ihren bittersüßen Melodien, was ich doch recht problematisch finde an diesem Film. Andererseits nutzt Kobayashi das geschickt, indem er öfters über das Aussetzen des Tons eine Blende konstruiert, die mit erneutem Einsetzen der Tonspur die Zäsur markiert. Und auch an Ereignissen passiert recht viel. So werden die gesamten Verwandten der beiden abgeklappert auf der Suche nach einem Verbleib für den Großvater. Dumm nur, dass er es sich seit Jahren mit allen verscherzt hat. Haru ist am Verzweifeln. Und so ist HARUS REISE eine langsam sich entfaltende Geschichte, die immer komplexer wird, über Familienbündnisse im zeitgenössischen Japan. Über Zusammenhalt und Individualismus, über - mal wieder - das Erwachsenwerden und zugleich über das Sterben. Über das Loslassenkönnen und den Neuanfang. Über Mut und Trauer. Besonders sehenswert macht den Film, dass er wie in einem Shomingeki das Besondere im Gemeinen verbirgt und erst im Laufe der Zeit seine Geschichte entblättert. Diese ist vollkommen alltäglicher Natur, jedoch mit dem speziellen Fokus eben wieder eine besondere. Und so geraten kleine Gesten zu großen, ein Lächeln kann zugleich zu Tränen rühren. Ein toller Film, und sehr einnehmend, wenn man sich auf ihn einzulassen bereit ist.
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Harus Reise ist bei Rapid Eye Movies erschienen und kann hier erstanden werden [DVD].
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