Nippon Connection 2017 ~ Vom langsamen Sterben in der Sperrzone: La Terre Abandonnée von Gilles Laurent (2016)
Eine Großaufnahme eines faltigen
Gesichts. Gestochen scharf, übergroß das Portrait des Mannes, der
mit gesenktem Kopf an einem Holztisch sitzt und den Tag Revue
passieren lässt. Er war draußen, hat hart gearbeitet, das Feld
bestellt. Die Hunde gefüttert und die Kühe versorgt. Er hat das
alles alleine gemacht, denn außer ihm ist sonst niemand mehr hier.
Seit der Reaktorkatastrophe von Fukushima ist die Gegend verseucht,
zur Sperrzone erklärt worden. Der Mann wohnt in seinem Geburtshaus,
es steht irgendwo in der Nähe der Kleinstadt Tomioka. Die Schiebetür
zum Garten ist offen, es weht ein leichter Wind. Sonnenstrahlen auf
den Tatami-Matten, ein Falter stirbt im Spinnennetz am Dachbalken.
Ein Geigerzähler knarzt. 0.33 Mikrosievert radioaktive Belastung.
Bis ich 90 Jahre alt werde, bin ich sowieso schon tot. Da kann ich
auch hier bleiben. Ein Gesicht im Gegenlicht, Wolken ziehen vorüber,
die Zikaden. Der Soundtrack der ländlichen Provinz. Der Mann schläft ein.
Es ist ein Idylle, aber eine Idylle der
Vergänglichkeit. Wie alles Leben vergänglich ist. Hier vergeht es
allerdings etwas schneller. In Tomioka, nahe Fukushima ist es eine
Idylle des unvermeidlichen, des beschleunigten Todes. Die Erde, der
Landstrich ist kontaminiert, die Beschwichtigungen der Regierung werden
verhöhnt und offen verlacht. Die Bemühungen der Verwaltung, die Ortschaft zu entgiften,
wirken wie hilflose Gesten vor einem übermächtigen Gegner. Ein paar
Leute sind hiergeblieben, sie harren aus und haben sich neu
eingerichtet in ihren Häusern, die zu Fallen geworden sind. Aber sie
sehen das nicht so. Sie sind zynisch geworden und verbergen die
Sorgen hinter einem Lachen. Wenn alle wegziehen, dann muss eben einer sich um die zurückgelassenen Tiere kümmern. Oder den Garten.
Oder sonstwas. Gegenseitig backt man sich was oder kommt vorbei. Die
Nachrichten laufen permanent, aber eher so als Realsatire. Wir
glauben euch nichts mehr.
Zwei Filme fallen mir ein, passend zu diesem: Homeland (2014) von Nao Kubota. Da gab es schonmal einen Mann, der nicht weg wollte aus seinem Haus, beziehungsweise zurückkehrte, wider besseren Wissens. Und dem die gesundheitlichen Risiken irgendwie egal schienen. Und es war ein Film wie ein Mikrokosmos, in dem die Schönheit in einer schrecklichen Welt deutlich wurde - und so zu einem Sinnbild für unser aller Leben wurde. Oder Sion Sonos Land of Hope (2012), in dem die Familie wegziehen musste, weil das Absperrband gerade noch über den Hof ging. Dahinter wäre es okay gewesen? Wem soll man hier noch glauben?
In La Terre Abandonnée gibt es ein mindestens ebenso starkes Bild: während die Arbeiter das kontaminierte Erdreich abgraben und in schwarze Säcke packen, pflügt der Bauer nebenan seinen Acker. Keine 10 Meter weit weg auf der anderen Seite der Straße, ganz so, als ob hier wieder alles im Reinen wäre. Der Mensch ist ein Individuum und macht was er will. Das gibt Kraft und Zuversicht. Kurz darauf werden sogar noch die Auberginen geerntet, die so schön geworden sind, wie schon lange nicht mehr. Und stetig knackt der Geigerzähler.
Michael Schleeh
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