Visa(a)ranai ist ein Film, der bisweilen kaum auszuhalten ist: wegen den enormen psychischen
Grausamkeiten, wie auch der exzessiven körperlichen Gewalt. Ein Film der mit zunehmender
Laufzeit wie kaum ein anderer das krebsartig wuchernde Geschwür der
Korruption in Indien darlegt. In den Behörden, den Polizeistellen, allen öffentlichen Diensten, die mit einander unter einer Decke stecken. Exemplifiziert wird das am Schicksal
dreier Freunde, die wie verlorene Zugvögel als Wanderarbeiter ihre Heimat, den Bundesstaat
Tamil Nadu, verlassen, um sich im nördlich gelegenen Andra Pradesh als
Tagelöhner zu verdingen. Dort geraten sie aber schon bald in
Polizeigewalt und müssen für irgendein anderes Verbrechen den Kopf hinhalten, da
der dortige Kommissar aus politischen Gründen einen Fahndungserfolg
nachweisen muss. Oder auch nur deswegen, um die eigene Karriere nicht zu beschädigen. Einmal im System gefangen, ist es den eingeschüchterten Tamilen kaum mehr möglich, sich aus dem spinnennetzartigen Geflecht der obrigkeitsstatlichen Gewalt zu befreien. Es versteht sie auch keiner, denn sie sprechen nur Tamil, kein Telugu.
Visaranai ist der erste tamilische Film, der bei den Filmfestspielen von Venedig gezeigt wurde. Was schon darauf hindeutet, wie sehr der südindische Film gerade im Kommen ist. Hier im Blog habe ich ja nun auch schon mehrfach darauf hingewiesen, wie die Tamil New Wave das Filmgeschehen verändert, und um wieviel kompatibler diese Art von Kino für das internationale Weltkinogeschehen ist - jenseits der beiden anderen Exportgaranten aus Indien, Bollywood und Arthouse-Kino aus Bengalen. Hier haben wir es mit den harten Realitäten des Alltags zu tun, kein Song & Dance nirgends, häufig Handkamera zur Versicherung des Authentischen. Ein Kino dichter dran am Leben, an den Sorgen und Nöten der Leute. Viel weiter weg von der bunten Masala-Traumfabrik Mumbais kann man sich eigentlich kaum noch positionieren. Denn nichts weniger als das Leben der drei Protagonisten steht auf dem Spiel: gerade noch so davon gekommen, ergeht es ihnen aber in einer Polizeistation in der Heimat nicht viel besser. Hier beginnt der zweite Teil des Films - wie gespiegelt oder um eine Achse geschwungen und nun im Süden des Landes - wo alles besser werden könnte, aber - tja - leider nur in einer gerechteren Welt.
Dort also können sie sich zwar
wieder verständigen, werden aber bald erneut die Opfer in einem
Spiel "des Systems" und der Mächtigen, da sie möglicherweise eine kompromittierende Unterhaltung der korrupten Polizisten mitbekommen haben könnten. Man möchte kein Risiko eingehen, dafür steht zu viel auf dem Spiel. Im Zweifelsfall müssen die drei eben weg. Nur: bis sie das wieder merken, die obrigkeitshörigen Duckmäuser, ist es schon fast zu spät. Ein fulminant spannender Showdown beschließt diesen
niederschmetternden, grobkörnig dreckigen Film, der sich manchmal
allzu sehr an der eigenen Gewaltdarstellung zu berauschen scheint und der in seiner Narration nicht gerade das Rad neu erfindet. Visaranai ist dabei vollkommen erschütternd, da ausgerechnet diejenigen Institutionen, die eigentlich dem Schutz der Bevölkerung und der Durchsetzung der Gesetze dienen sollten, das Leben der Protagonisten zur Hölle machen. Man kann sich nicht ausdenken, wie dieser im Kern durch und durch politische Film in einem Land wirken muss, in welchem tatsächlich solche Zustände herrschen. Da bleibt nur zutiefste Verunsicherung.
Michael Schleeh
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