Nippon Connection 2017 ~ Love lost and found in Hakodate: Over the Fence von Nobuhiro Yamashita (2016)
Eine Frau (Yu Aoi) rennt über die
Straße, sie streitet sich mit ihrem Begleiter – er soll sich
gefälligst mehr um die Kinder kümmern. Plötzlich führt sie einen abgehackten Stakkato-Tanz auf, der, wie man später erfährt, das
Balzritual eines (Vogel) Straußes ist. Aus einiger Entfernung
betrachtet Joe Odagiri diese absurde Szene und fragt sich –
wie der Zuschauer – ob diese Frau noch alle Tassen im Schrank hat.
Er selbst hat Tokio vor ein paar Monaten den Rücken gekehrt, nachdem
ihn seine Frau mitsamt der Tochter nach einem tragischen Vorfall
bereits vor Jahren verlassen hatte. Nun ist er traumatisiert und arbeitslos und muss an
einem Lehrgang zur Schreinerlehre teilnehmen, um weiter
Arbeitslosengeld zu beziehen. Mit ihm eine ganze Reihe von
Berufsjugendlichen, und diese gründen eine Softball-Mannschaft, da
auch die sportliche Fitness vom Staate vorgeschrieben ist.
Allerdings stehen sie lieber rauchend in der Ecke und unterhalten
sich über alles mögliche, vor allem aber das Leben und die
Perspektivlosigkeit desselben. Das wird gezeigt mit lakonischer
Ironie und einer guten Portion Zynismus dem eigenen Lebensweg, ehemals "Karriere" genannt,
gegenüber. Freilich kann es einem da trotz der federleichten
Erzählweise Yamashitas eiskalt den Rücken herunterlaufen, denn
diese prekären und völlig unsicheren Verhältnisse sind nun auch
für hiesige Zuschauer keine fremde Welt.
Wie schon in The Drudgery Train (2012)
legt Yamashita den Finger in die gesellschaftliche Wunde und
portraitiert den desillusionierten Alltag der japanischen Lost
Generation der heute um die 30jährigen, die aus dem Raster des
Systems gefallen sind. Der japanese way, sich als sarary man
lebenslang in einer Firma zu verdingen, hat ausgedient und ist nichts
für sie (vgl. 100 Yen Girl, 0.5mm). Im 7/11-Shop wollen sie aber auch
nicht mehr jobben, also bleibt da nicht mehr viel. Häufig steht auch
eine Rückkehr in die Heimat an (wie in Tamako in Moratorium), da man sich
Tokio nicht mehr leisten kann und sowieso als Mahnmal des Scheiterns
betrachtet wird. Der Film spielt also fern von Tokio, im „hohen
Norden“, in Hakodate auf Hokkaido. Yamashita aber vermeidet alles Touristische dieser schönen Stadt: das europäische Viertel, die
berühmte Nachtansicht von oben auf das Stundenglas der erleuchteten
Stadt (übrigens unter den Top 5 der Most Famous Nightviews of Japan
der Tourismusbehörde), oder auch die restaurierte Docklandschaft mit
den Markthallen. Yamashita zeigt lieber Möwen vor grauem Himmel, die
wie Kapitel den Film strukturieren, verwahrloste Küstenabschnitte
und charakterlose Schulhöfe. Das passt ganz gut zu Odagiris
Wohnungseinrichtung – denn der hat noch keinen einzigen Umzugskarton
ausgepackt. Sie ist leer, trostlos, freudlos und kahl. Sein neues
Leben hat noch nicht begonnen, das ist offensichtlich. Er holt sich
fertige Bentos und trinkt vor allem viel Bier.
Der Impuls zur Veränderung kommt dann,
klar, von außen, und auch klar: von Yu Aoi. Sie arbeitet nachts in
einer Bar als Unterhaltungsdame und dort wird er einmal
mit hingeschleppt von einem Kollegen. Er erkennt sie wieder, die
verrückte Frau vom Parkplatz, und es beginnt so etwas wie eine
Liebesgeschichte der Irrungen und Wirrungen. Denn so zerfasert ihr
Leben ist, so unfähig sind sie mittlerweile geworden, sich auf
normalem Wege kennen zu lernen. Ein jeder steckt in seinem eigenen
Gefängnis fest, oder besser: Käfig. Und wie Yu Aoi dann später vor
Wut alle Tiere des Zoos befreit („Over the Fence“), so müssen
auch die Protagonisten "Over the Fence", um wieder als soziale Wesen
funktionieren zu können. Es geht aber auch weniger metaphorisch:
Beim Softball-Spiel am Sonntag will Joe Odagiri einen Homerun für
Yu Aoi schlagen. Und was das bedeutet, ist sonnenklar. Doch als sein
Schläger den Ball trifft, und man hört, dass er ihn gut trifft, da
bricht der Film wie mit einem Lächeln einfach ab.
Michael Schleeh
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