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Ikiru - Einmal wirklich leben (Akira Kurosawa, Japan 1952)


Es ist für mich schon sehr erstaunlich, wie ungeteilt positiv die Resonanz zu Kurosawas Filmen der "mittleren Werkphase" ist, die Zeit, in der seine sogenannten "Hauptwerke" entstanden. Insbesondere ein Film wie IKIRU, der nun wirklich keine herausragende, sondern eine vor allem recht alltägliche, eigentlich sehr banale Geschichte erzählt. Die immer wieder hervorgehobene menschliche Qualität vor allem dieses Films, was immer diese Verkürzung auch genau bezeichnen mag, sei etwas ganz besonderes.

Vor allem haben wir es hier mit einem in Routine und Pflichterfüllung erstarrten Individuum zu tun, das in einem kafkaesken Behördenalltag gefangen ist (immer wieder ins Bild gesetzt mit den sich hoch auftürmenden Akten und Papierstapeln, die sogar das Fenster verdecken und alles Sonnenlicht rauben), einem Individuum, das erst aufgrund seiner Krankheit, die unweigerlich zum Tode führen wird, die Verkrustungen aufbrechen kann, in denen es sich jahrelang eingerichtet, das diese akzeptiert hatte und auch weitergegeben hat. Am deutlichsten wird dies im Kontrast zur jungen, lebenslustigen Kollegin, die genau deshalb kündigt, weil es ihr schlicht zu langweilig ist. In dieser städtischen Behörde bewegt sich schlicht überhaupt nichts (bis auf die antragstellenden Bürger, die sich bei einer Eingabe wie eine Prozession auf eine Odyssee durch die Dienststellen bewegen müssen). Jene packt ihn am Arm, zaubert ein Lächeln aufs Gesicht - sehr zum Unwillen der Umwelt, die hier ein bedauerliches erotisches Verhältnis unterstellt, was freilich völlig haltlos ist. Die Protagonistin wird einen harten Job in einer Fabrik annehmen, in der ihre Arbeitskraft tatsächlich, sichtlich, etwas bewegt, durch die etwas "entsteht."

Kurosawas Kunst ist dabei freilich, durch die ausführliche Schilderung des psychischen und physischen Zustands seines Anti-Helden, durch die psychologische Erzählung ein Verstehen im Zuschauer zu erzeugen, der dadurch gewillt ist, dem Helden das verfehlte Leben der Pflichterfüllung zu vergeben und der durch das hervorgerufene Mitleid und die Anteilnahme am schlimmen Schicksal der Figur schließlich Verständnis für diesen aufzubringen bereit ist. Seine Sache ist denn ja auch eine Gute, Soziale: den Moskitotümpel des Viertels (ein déjà vu für Kurosawa-Adepten) trocken zu legen und an jener Stelle einen Kinderspielplatz zu bauen. Wobei sich eben genau jener obrigkeitshörige Beamte gegen die Dienststellen auflehnen muss und gegen den unbeweglichen Apparat aufbegehrt, den er selbst ein Leben lang repräsentierte und dem er de facto immer noch angehört.


Takashi Shimura in der Hauptrolle des Kanji Watanabe ist aus diesem Film nicht wegzudenken. Es ist ein cineastisches Vergnügen, wie dieser Mann beinah im Alleingang den ganzen Film allein durch seine Präsenz zu tragen versteht. Vor allem deshalb, da er den Film über so gut wie kein Wort sagt und alles durch sein sehr reduziertes (!) Spiel auszudrücken versteht. Allenfalls brummt er etwas vor sich hin, oder fängt in den kleinen konfrontativen Diskussionen mit Miki Odagiri, die hier seine lebenslustige Kollegin Toyo spielt, das Stottern an. Meist muss aber ein kurzes, angedeutetes Lachen genügen.


Ein fulminater Kunstkniff Kurosawas aber ist es nun, den Film kurz vor dem Erreichen des Plothöhepunkts auszusetzen, mit einer Ellipse zu arbeiten und mit einem Zeitsprung in die Zukunft der erzählten Zeit zu springen. Schnitt. Nun ist der Protagonist bereits tot, die Kollegen und die Angehörigen befinden sich in Trauer bei der Totenwache und lassen die Ereignisse Revue passieren. Das gibt Kurosawa die Möglichkeit, in der Retrospektive die Ereignisse diskussionsfähig werden zu lassen, die Kollegen bloßzustellen oder sich bewähren zu lassen; kurzum: den Sachverhalt an Stelle des Zuschauers zu diskutieren, zu bewerten, auch: den Menschen zu betrauern. Eine Chance, dann mit eingeschobenen Rückblicken illustriert, sanfte Kritik zu üben, Nachsicht walten zu lassen, ein formal geschlossenes Ende zu finden. Zu einem Schluss zu kommen, der in der Trauer mit der Hoffnung einher geht, dass Veränderung, private aber auch gesellschaftliche, durch das persönliche Engagement des Einzelnen erreicht werden kann und den Dingen so etwas Positives hinzufügt (hier das mono no aware, das "Herzzerreißende der Dinge"). Auf diese Weise findet der Film schließlich zu einem traurigen, aber zugleich hoffnungsvollen und versöhnlichen Ende.

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