Mit wackliger Handkamera gefilmt, ohne zusätzliches Licht, wodurch die Dunkelheit viele Details, teilweise sogar ganze Bilder zu verschlucken droht, alles ohne Musik: Masahiro Kobayashis WAKARANAI schaut nach einem waschechten Independent-Film aus. Und die Produktionsfirma namens 'Monkey Town Productions' spricht ebenfalls dafür, denn die hat offensichtlich alle Kobayashi-Filme produziert. Das dürfte folglich die eigene Produktionsfirma des Regisseurs sein. Es beginnt auch schon sehr ungewöhnlich, wie man das bei einem kommerziellen Film nicht erwarten würde: denn am Anfang des Films ist erstmal nichts. Ein Song ertönt, Gitarre und Gesang, gut fünf Minuten lang, dazu ein Schwarzbild. Dann erst beginnt der eigentliche Film mit einem Filmbild. Am Ende genauso merkwürdig: der Junge stolpert aus der Szene, eine endlose Straße entlang, so verlässt er das Filmbild, den ganzen Film. Das Ende ist ein Aufbruch ins Unbekannte. Die Kamera lässt ihn gehen, in eine ungewisse Zukunft hinein. Beinahe ein Kind noch, auf sich alleine gestellt, der nun Erwachsener spielen muss und emotional völlig fertig ist. Der einen Panzer um sich trägt und lange Zeit mit versteinerter Miene spielt. Wollte man einen europäischen Vergleich ziehen, dann könnte man an die Filme der Brüder Dardenne denken, die schon häufiger Jugendliche und Kinder in äußerst prekären Verhältnissen - mit ganz ähnlichen filmischen Mitteln - abgebildet haben.
Und die Spirale in den Abgrund scheint unaufhaltsam: nicht nur wächst Ryu Kawai (Yuto Kobayashi) ohne Vater auf, sondern auch seine Mutter ist seit mehreren Monaten wegen einer schweren Krankheit im Krankenhaus. Der Junge geht noch zur Schule und muss nicht nur sein eigenes Leben völlig selbständig organisieren und auf die Reihe bekommen, nein, er muss auch das Geld für die Behandlung seiner Mutter irgendwie auftreiben. Strom und Wasser hat er schon längst nicht mehr, da er die Rechnungen nicht bezahlen konnte. Im Convenient-Store, wo er aushilfsweise arbeitet, klaut er Reisbällchen, da er sich nicht mal das Essen guten Gewissens leisten kann. Und weil es immer noch schlimmer kommt, als es schon ist, wird er dabei ertappt und verliert auch noch den Job, das letzte Standbein. Kobayashi macht das dann auch ganz einfach, weil er seinen Protagonisten immer beim Essen zeigt. Also, was heißt da "essen": beim Hineinschaufeln, beim gierigen Schlingen, schlicht: beim Fressen, weil es bei der Nahrungsaufnahme ums Überleben geht. Und die Tragödie nimmt hier noch kein Ende, es wird dann sehr schlimm für ihn und rührend für den Zuschauer. Sentimental allerdings nie. Kobayashi lässt alles aus, was zu affektgeladen sein könnte. Ryu bleibt dem Zuschauer auch deswegen immer etwas fremd, auf Distanz, so ganz kommt man nicht an ihn ran und also traut man ihm auch alles zu. Da er immer mehr zum wilden Tier degeneriert, hätte es mich nicht gewundert, wenn er wie HWAYI, der koreanische Monster Boy (Review), auch mal unvermittelt richtig zubeisst.
Wie auch in Kobayashis Film HARUS REISE (Review), der bei uns wegen einer DVD-Veröffentlichung und einer Ausstrahlung beim Fernsehsender arte etwas Bekanntheit erlangt hat, so entfaltet sich hier in WAKARANAI die Geschichte sehr langsam. Es wird nichts erklärt, Personen werden nicht eingeführt, dem Betrachter werden keine Hilfestellungen an die Hand gegeben oder gar per Dialog unlautere Abkürzungen gewählt. Denn alles, was man nicht versteht, klärt sich im Laufe des Films. Man muss nur warten können, mitdenken, ein wenig sich auf den Film einlassen. Der belohnt es dann, weil er nichts vorgaukelt, nicht taktiert mit seinen Infos (eine echte Krankheit heutzutage), belässt den Zuschauer nicht absichtlich im Dunkeln um ihn dann per ausgeklügeltem "Mindfuck"-Twist zu überrumpeln. Das hat dieser viel zu sehr am alltäglichen Realismus entlang schrammende Film weder nötig, noch auf seiner ästhetischen Agenda. Er springt mitten hinein in die Erzählung (abgesehen vom musikalischen Prolog), beinah wie in einem Kurzfilm stellt er eine Unmittelbarkeit her, die eben gerade nicht durch einen Establishing shot die Dinge ins Verhältnis setzt. Nein, man ist dicht dran am Erlebnishorizont des Jungen, an seinen unübersichtlichen Problemen, an seinem Leiden, an seinem Panzer, mit dem er sich zu schützen versucht. Vor den Mitschülern, den Erwachsenen, der Gesellschaft, die das Zahlungsmittel Geld zum allein seligmachenden Kommunikationsmittel erhoben hat. Besitzt man es nicht, wird man zur persona non grata, zum Außenseiter. Man wird verstoßen aus dem Sozialverband und zwingt das Opfer in eine parasitäre Notlage. Dort, an den Rändern, findet der Film oft seine schönsten Momente, so grotesk das klingen mag. Denn, wie er die Mutter im Boot aufs Meer hinausschiebt, das ist ein kleiner großer Moment in diesem viel zu wenig beachteten Film.
Michael Schleeh
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