Obwohl Qissa im Punjab angesiedelt ist, 1947, vor dem Hintergrund der Teilung der Provinz durch das Erreichen der Unabhängigkeit des Subkontinents, ist Qissa kein Historienfilm. Ein Teil wurde dabei Pakistan, der andere aber Indien zugesprochen und dadurch kam es in der Folge zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen - mit Mord und Totschlag zwischen Sikhs und Moslems. Anschließend zu unvermeidlichen Migrationsbewegungen, da viele Familien ihr Zuhause verloren oder es aus Angst verlassen mussten. Die Teilung des Landes, deren Auswirkungen für viele der Opfer lebensbedrohlich war, ist aber ebensowenig die Grundlage für ein obligatorisches Biopic, auch wenn Qissa vor allem die Frage nach der verloren gegangenen Identität der Vertriebenen stellt, die an neuem Ort eine neue Existenz aufbauen müssen.
Diese "Chance" bekommt auch die Heldin dieses Films aufoktroyiert, die viertgeborene Tochter Umbers (gespielt von Irrfan Khan): neu anzufangen, alles hinter sich zu lassen. Für sie könnte das eine Befreiung sein. Nur ist das gar nicht so einfach, wenn das Unterdrücken der eigenen Identität zur konstituierenden Persönlichkeit geworden ist. Doch zurück zum Anfang: nach drei Töchtern wünscht sich das Familienoberhaupt Umber Singh nichts sehnlicher als einen Sohn. Doch als ihm seine Frau erneut eine Tochter schenkt, verschließt er die Augen vor der Realität, und erzieht das heranwachsende Mädchen als Jungen. Die Androgynität des Kindes erlaubt das zunächst, auch gegen die Widerstände seiner Gattin setzt er sich als patriarchalischer Vorstand der Familie durch. Und später, beruflich erfolgreich und angesehen, wagt niemand an seinem Konstrukt zu zweifeln. Aber es ist noch viel schlimmer: es scheint tatsächlich niemand zu sehen, dass eine junge Frau vor den Augen aller ihrer Persönlichkeit, ihrer Bedürfnisse, ihrer normalen Entwicklung beraubt wird. Und auch die Frau selbst weiß lange Zeit nicht, was eigentlich ihre authentischen Bedürfnisse überhaupt sind oder sein könnten, da sie die ganze Zeit eine Rolle zu erfüllen hat. Qissa als tragisches Transgender-Epos.
Qissa ist ein Film über Menschen in der Diaspora, in dem eine äußere Entwurzelung mit einem inneren Identitätsverlust parallelisiert wird. Der Sohn Kanwar (toll gespielt von der vielleicht etwas zu femininen Tillotama Shome, die man etwa aus Monsoon Wedding kennen könnte) bricht dann aber aus seinem Gefängnis ab dem Zeitpunkt aus, da Umber ihn/sie an die Tochter eines Zigeuners verheiraten möchte. Ein Ereignis, das man tatsächlich als Umbers Kapitulation lesen könnte: eine Verheiratung an ein Mädchen aus niedrigerer Kaste, die letztlich zwangsläufig zur Enthüllung des Konstrukts führen muss.
Abgesehen von einigen gut vermarktbaren offensichtlichen Exotismen (der Film ist co-produziert von arte, Heimatfilm, und dem ZDF) und dem bisweilen etwas konstruiert anmutenden Plot überzeugt der Film aber auf visueller Ebene, wo von schwergewichtiger Politik und diffizilen Gender-Diskursen nichts zu bemerken ist: Qissa ist vielmehr, zunächst noch versteckt, als visuelles Poem angelegt. Und das, ohne dabei träumerisch oder gar schwülstig zu sein. Der narrativ geradlinige Film löst sich gegen Ende immer weiter auf und treibt hinein in ein mystisch-märchenhaftes, beinahe folktale-haftes Erzählen (die Erzählung des einsamen Geistes), das sich in die Darstellung seelischer Gefilde begibt, die an die weiten, panoramatischen Landschaften vom Beginn des Films erinnern. Zur träumerischen Poetik der Bilder sei dieser Beitrag von Rüdiger Tomczak bei shomingeki empfohlen. Qissa ist ein indischer Film, bei dem kurzzeitig sogar eine lesbische Utopie möglich zu sein scheint - und bei dem es sicherlich förderlich ist, wenn man versucht, sich für die fremde Kultur zu öffnen und sich vom eigenen, vorgeprägten und westlichen Blick zu lösen. Man könnte also erstmal damit beginnen, indische Filmkritiken zu lesen. Wie auch sonst sollte man den Geistern, die diesen spannenden Film umtreiben, beikommen?
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