Direkt zum Hauptbereich

Die Nippon Connection 2016 - Japanisches Filmfestival Frankfurt


Was ich nie vergessen werde: wie im Frühjahr 2013, an einem für die Jahreszeit viel zu heißen Tag, die ganzen Leute, mit denen man sich getroffen hat, dann gemeinsam ins Filmmuseum Frankfurt hinabgestiegen sind um sich im kühlen, dunklen Kino von einer Bikergang überfahren zu lassen. In meiner Erinnerung ist im ganzen Film kein einziger normal ausgesprochener Satz gefallen, alles wurde gebrüllt oder geschrien, über das Röhren der rauchenden Auspuffe hinweg, über das Wegspritzen des Drecks und des Steinbelags, Gummispuren auf dem Asphalt hinterlassend und man selbst war eingehüllt in eine Nebelwolke aus Abgasen und Ekstase. Der Film hieß CRAZY THUNDER ROAD, sein Regisseur Sogo Ishii. Einführung: Tom Mes. Ein selten aufgeführter Mega-Klassiker der japanischen Filmgeschichte, der so genannten "Punk Years", gezeigt in der Retrospektive Eccentric and Explosive - the cinema of Sogo Ishii. Dieser Film war nur einer der Höhepunkte dieses Festivals, da gab es noch viel andere. Und neben all den Filmen und Spektakeln war es eben auch besonders toll, mal wieder die ganzen Leute - auf einem Fleck - zu treffen, die man schon lange nicht mehr gesehen hatte (manche kannte man auch nur von Facebook), die mit einem dieselbe Leidenschaft teilten. Aber dieses Gefühl, das lässt sich schönerweise wiederholen, jedesmal ein bisschen anders, klar, bei der Nippon Connection in Frankfurt. Dem japanischen Fimfestival in Deutschland und Europa, dem vielleicht schönsten Filmfestival des ganzen Jahres. Und das aus vielerlei Gründen, und zur diesjährigen, wieder spektakulären Retro, später mehr.

Für eine knappe Woche wird das Gelände um den Mousonturm in der Frankfurter Innenstadt, eine Art aufgehübschter Kulturbunker, zum Zentrum des Festivals. Dort befinden sich auf mehreren Ebenen Kinos, Veranstaltungsräume, Ticketschalter, Merchandise-Stand, Cafés, Pressezentrum usw. usf. Schräg gegenüber, in einer restaurierten historischen Fabrikhalle, der Naxoshalle, kann ebenfalls ins Kino gehen, Essen abholen und Leute aus dem Organisationsteam treffen. Dort herrscht eine entspanntere Atmosphäre, weil nicht so voll. Die Bierbänke vor dem Eingang verführen zum Sitzenbleiben, Quatschen, Leute Kennenlernen. Eigentlich halte ich mich dort am liebsten auf: man steht so ein bisschen am Rand und ist aber trotzdem mit dabei. Filme laufen ja außerdem auch noch, oder eine Performance wird gezeigt. In der Peripherie der Stadt finden sich dann die weiteren Spielstätten, wie das Mal Seh'n-Kino oder eben das oben erwähnte Filmmuseum. Ein Theater und eine Galerie gehören dieses jahr auch noch zum Festivalhorizont. Da muss man dann aber überall extra hinfahren und sich Zeit nehmen, klar. Nun aber zum Festival-Programm (Link):

Man kann dieses Jahr dann auch gleich mit Sogo Ishii weitermachen, der sich seit neuerem Gakuryu Ishii nennt (und der sich mit seinem Comeback-Film ISN'T ANYONE ALIVE? im Jahr 2012 umbenannt hat): auf dem Festival läuft THAT'S IT (Soredake, 2015), der an seine wilden Punk-Years anschließen soll, an Klassiker wie BURST CITY oder eben die Bikergangs in CRAZY THUNDER ROAD. Der Titel ist inspiriert von einem Song der japanischen Rockband Bloodthirsty Butchers und ist also, neben seinem Plot um einen jungen Mann, der aus einer Verbrecherbande aussteigen will und dabei einen dummen Fehler begeht, auch eine Hommage an den jüngst verstorbenen Sänger dieser Band. Außerdem, und darauf bin ich besonders gespannt, weil ich Isao Yukisadas Filme so mag: PINK AND GRAY, den ich in Hong Kong verpasst habe. Eiji Uchidas neuer Film LOWLIFE LOVE hat einiges an Turbulenzen erzeugt: es ist ein no-budget-Film, produziert und finanziert vom Chef von Third Window Films, der für den Film seine private Schallplattensammlung verkauft hat. Auf Twitter konnte man dem Entstehen des Filmes wunderbar beiwohnen. Und dann gab es auch noch Ärger, weil er als Selbst-Reflexion auf die japanische Filmindustrie deren Untiefen auslotet und sich als Nestbeschmutzer bezichtigen lassen musste. Schön!

Der neue Takeshi Kitano, RYUZO AND THE SEVEN HENCHMEN (Review), ist eine großartige, dabei ziemlich bittere Altherren-Yakuzakomödie und sorgt mit Sicherheit für einen gelungenen Abend (dafür verbürge ich mich). Auch auf Yoji Yamadas Film NAGASAKI: MEMORIES OF MY SON freue ich mich besonders, der laut bisheriger Resonanz ganz besonders rührend ausgefallen sein muss. Ob er besser ist als sein neuster, im Jahr 2016 entstandener Film mit dem spöttischen Titel WHAT A WONDERFUL FAMILY! (Review), wird sich allerdings zeigen müssen. Ebenfalls im Programm findet sich eine Mini-Retrospektive einiger Filme von Kiyoshi Kurosawa, der dieses Jahr mit dem Nippon Honor Award geehrt wird. Gezeigt werden TOKYO SONATA (Review), CURE, CREEPY (Review) und sein großartiger, dabei ziemlich ruhiger Film JOURNEY TO THE SHORE (Review). Besonders freuen darf man sich außerdem auf eine geballte Doppelladung Sion Sono: neben THE WHISPERING STAR läuft noch sein völlig großartiger LOVE & PEACE, der für mich zu den besten Filmen des gesamten letzten Jahres zählt (Review).

Neben einer ganzen Reihe von Animationsfilmen wie MISS HOKUSAI (heiß erwartet!), THE CASE OF HANA & ALICE von Shunji Iwai (Review), HARMONY von Michael Arias oder EMPIRE OF CORPSES von Ryotaro Makihara kann man neues Cine-Gold auch in der Sektion Nippon Visions entdecken, in der noch unbekannte Filmemacher mit etwa zwanzig Filmen vertreten sind. Außerdem finden sich hier auch drei Kurzfilmprogramme. Sektionenübergreifend werden natürlich auch gesellschaftlich relevante Themen verhandelt, ganz besonders im Fokus steht hier das schreckliche 5jährige "Jubiläum" der Dreifachkatastrophe in Sendai, mit dem Erdbeben, dem Tsunami und der Reaktorkatastrophe von Fukushima. Ein äußerst virulentes Thema, das auch - schon alleine wegen der Spätfolgen - filmisch noch längst nicht abgeschlossen behandelt ist, auch wenn sich vor Ort partiell etwas Normalität einzustellen beginnt.

Die Filme der Nippon Retro sind  dieses Jahr eine ganz besondere Delikatesse, denn es geht um japanische Geistergeschichten. Und da reihen sich große Filmklassiker wie Kenji Mizoguchis UGETSU MONOGATARI, Kaneto Shindos ONIBABA oder Nobuo Nakagawas bildgewaltiger JIGOKU, der seine Höllenbilder ganz einzigartig auf die Leinwand wirft, neben bei uns unbekannteren Werken wie Nakagawas MANSION OF THE GHOST CAT oder Kenji Misumis YOTSUYA KWAIDAN. Diese Filme sind völlig zu unrecht in Vergessenheit geraten und gehören dringend wieder ins Bewußtsein einer größeren Zuschauerschaft katapultiert. Es sind magische Filme, die auf bedrohliche Weise die Schwelle zwischen Leben und Tod aufzulösen vermögen und die die Angst und den Terror, auch den Sog, den sie auf ihre Protagonisten auslösen, in enigmatischen Bildern zu visualisieren vermögen. Die Filme dieser Retro muss man ausnahmslos alle gesehen haben.

Außerdem läuft noch Satsuo Yamamotos PEONY LANTERN GHOST STORY (1968), der im Programm unter dem etwas ungewöhnlichen US-Titel THE BRIDE FROM HADES aufgeführt wird - und der der einzige Film der Retrospektive ist, den ich noch nicht kenne. Einige der Filme sind so gut wie niemals in Deutschland auf der großen Leinwand zu sehen, wenn man nicht gerade in der Nähe eines Ablegers der Japan Foundation wohnt, aus dessen Bestand die Filme der Retro stammen dürften. Zumindest habe ich im Japanischen Kulturinstitut in Köln das meiste der Sachen gesehen. Aber wie auch immer: das ist eine ganz tolle Zusammenstellung und absolut essenziell, wenn man sich für klassische Horror- und Geisterfilme aus Japan interessiert.

Abgerundet wird das filmische Programm wie jedes Jahr mit einer ganzen Fülle an Attraktivitäten, die alleine für sich schon genügen würden, um das Publikum anzulocken. Man kann in dieser Woche quasi einen Kurzurlaub in Japan verbringen, wenn man sich auf all die verschiedenen kulinarischen Genüsse stürzt. In der Saké-Lounge abhängt, an einer Teezeremonie oder an einem Kochkurs teilnimmt. Musikalisches findet sich ebenso bei Konzert- und Karaoke-Veranstaltungen, man kann einen Manga-Workshop belegen und verschiedenen Vorträgen und Podiumsdiskussionen beiwohnen (zum Beispiel einen mit dem interessanten Titel Female Ghosts in Japanese Cinema, der mit Sicherheit auch auf die Retro abzielt und hoffentlicht auch die yuki onna, meine Lieblingsgeistergestalt, mit einbezieht, die in der Retro übrigens sträflichst vernachlässigt wird). Ansonsten gibt es noch einen japanischen Markt, ein Game-Center, Origami-Kurse, ein Schwertkampfspektakel und noch so einiges mehr, wenn man das Stillsitzen im Kino satt hat. Es ist eine Überfülle, der sich schwerlich Herr werden lässt, und wie so oft bei solchen Veranstaltungen wird man dazu gezwungen, sich in der Kunst des Weglassens zu üben: wenn ich mich für A entscheide, dann muss ich B und C sausen lassen. Es ist eine Tragödie. Aber eine schöne. Darauf ein mono no aware!

Michael Schleeh

***

Beliebte Posts aus diesem Blog

Abschied

Micha hat diesen Blog fast 15 Jahre mit großer Leidenschaft geführt. Seine Liebe zum asiatischen Kino hat ihn in dieser Zeit in Kontakt mit ganz unterschiedlichen Menschen gebracht. Viele von euch waren ihm, wenn auch nicht räumlich, so doch gedanklich und emotional sehr nah. Jetzt ist er am 30.12.2021 zuhause in Bonn gestorben. Ich habe mich entschlossen, Michas Schneeland-Blog auch in Zukunft nicht offline zu stellen. So können Interessierte weiterhin all die klugen, detailgenauen und begeisternden Gedanken zum asiatischen Kino nachlesen, die er über die Jahre festgehalten hat.  Neben seinem Blog hatte Micha 2021 noch ein neues Projekt aufgenommen: Gemeinsam mit der Videokünstlerin Sandra Ehlen und Thomas Laufersweiler von SchönerDenken hatte er begonnen, in einem Podcast das filmische Werk von Keisuke Kinoshita zu besprechen. 25 Beiträge sind so bis zu Michas Tod im Dezember noch entstanden. Alle zwei Wochen erscheint nun eine Folge dieser Kinoshita-Reihe. V ielleicht eine sc...

House Owner (2019) ‘ஹவுஸ் ஓனர்’ (directed by Lakshmi Ramakrishnan)

 Während der Regenzeit in Chennai geht ein zurückgezogen lebendes, älteres Ehepaar durch turbulente Zeiten. Anstatt sich den Lebensabend zu versüßen, sind sie in einer endlosen Spirale der Beziehungshölle gefangen - und zwar deswegen, weil der Ehemann an Alzheimer erkrankt ist. In dieser schwierigen Situation managt die Ehefrau den gesamten Haushalt - aber nicht nur das. Sie kümmert sich freilich um alles und erträgt auch die ruppige Art des ehemaligen Armeegenerals, der sich seiner eigenen Krankheit nicht bewußt ist. Die Schärfe in der Stimme, den ehemaligen Kasernenhof-Ton, hat er leider aber nicht vergessen.    Sriranjini ist dann auch die heimliche Protagonistin und generell die Hauptfigur in diesem aufs Nötigste reduzierten Drama, die alles überstrahlt - und sie meistert die Rolle großartig. Immer wieder bricht der Film aus der aktuellen Zeitschiene aus und springt hinüber auf eine andere, vergangene. Sie zeigt, wie es früher war. Wie sich die beiden kennenlernten...

Thittam Irandu (2021) ‘திட்டம் இரண்டு’ Directed by Vignesh Karthik

Thittam Irandu is a south Indian Tamil police procedural mixed with a nice love story that turns sour as the female detective investigates in a murder case and consecutively digs into the life of her new boyfriend . It is a very dark and atmospheric police procedural, with a hefty overstuffed script - but also with too many fade outs and accumulated scenes that make it almost impossible to find an organic flow in the long  run. It's getting quite annoying as it loses its 'natural rhythm' further down the road, if there's anything like that in filmmaking. Thittam Irandu could have been a lot better aswell with a little more effort especially in the sound department for there are endless repetitions of filler music. Wouldn't have been bad if it took care of the endless plot meanderings at the end aswell. But, there's good acting throughout, so I won't complain too much. Thittam Irandu is enjoyable for most of the running time, even though it starts to dra...