Ein indischer Zuckerbäcker aus der Provinz steigt sozial auf und wird der Fahrer eines reichen
Industriellen in Delhi. Er beobachtet, lernt schnell und als sich ihm schließlich die
Gelegenheit bietet, begeht er ein Verbrechen um selbst Unternehmer zu
werden. Der Clou des Buches aber ist der, dass der Ich-Erzähler mitsamt seiner gewonnenen Souveränität aus der
Rückschau auf seinen Werdegang einen Briefroman schreibt, nun als
etabliertes Mitgleid der Gesellschaft. Das fügt der Erzählung eine
weitere Reflektionsebene hinzu - genauso wie die etwas hanebüchene
Prämisse, dass der Empfänger der Briefe der chinesische
Ministerpräsident ist, welchem er sich bei dessen Indien-Besuch
empfehlen will. Wen Jiabao möchte nämlich an das Geheimnis des
"indischen Unternehmertums" gelangen, und Balram Halwai, der Erzähler,
meint nun ganz selbstbewußt, er könne daraus Ruhm und Profit schlagen.
Der weiße Tiger
ist ziemlich lustig erzählt und man bekommt eine Vielzahl von thematischen Einblicken in ein Indien, das einem normalerweise verborgen bleibt: etwa in die
Gegensätze der unteren und oberen Gesellschaftsschichten, also in das indische Kastensystem, das der Erzähler mit einem Hühnerkäfig vergleicht ("the rooster co-op"); In ihm sind die Hühner so darauf konditioniert, zu gehorchen, dass sie nie an einen Ausbruch aus den Schranken denken würden - und das sogar freiwillig ablehnen würden, würde man ihnen die Gelegenheit dazu bieten; In das System der alles beherrschenden Korruption; In die strengen Familienstrukturen, und vieles mehr. Aber, und das ist eine der großen
Leistungen des Romans, alles bleibt frei von jedem pädagogischen Zeigefinger oder moralischem Ballast, von sich anbiederndem Exotismus
oder vom pseudoliterarischen, ironisch-schmunzelnden Blick. Auch biedert sich der Roman nicht an jene Sehnsucht nach Arbenteur und Exotik an, die ihm im Westen vielleicht einen Literaurpreis einbringen könnte. Dafür ist er viel zu schmutzig und schockierend. Der weiße Tiger ist ein sehr authentisch wirkender Roman, der zudem enorm viel Spaß macht.
Michael Schleeh
Michael Schleeh
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