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Das Jagdgewehr / Ryoju (Yasushi Inoue, Japan 1949)


 Der Herausgeber einer japanischen Jagdzeitschrift ("Der Jägerfreund") veröffentlicht ein extra für ihn verfasstes Gedicht eines ehemaligen Freundes, nun ein Schriftsteller. Obwohl sich das Gedicht gegen das Töten ausspricht, wird es an das Ende das Heftes gesetzt - der zuletzt erscheinenden Nummer zudem, bevor es eingestellt wird (ein durchaus interessanter Kommentar des Herausgebers). Aufgrund dieses Gedichtes bekommt der Schriftsteller von einem Mann, dem dieses Gedicht gefällt und das unter anderem die Einsamkeit des Jägers thematisiert, drei Briefe mit der Bitte um Lektüre zugesandt. Darin offenbart sich eine tragische Geschichte: der Absender, selbst ein Jäger, hinterging jahrelang seine Frau mit einer Geliebten (der Cousine seiner Gattin), welche er aufrichtig liebte. Diese Geschichte ergibt sich puzzle-artig und polyperspektivisch aus den Inhalten der drei Briefe der betroffenen Frauen (seiner Gattin, der Liebhaberin und deren Tochter). Höhepunkt des Romans ist sicherlich die Stelle, in der seine Frau, auf der Veranda sitzend, ihren Mann in der reflektierenden Glasscheibe erkennt, wie er im Wohnzimmer stehend das eben gereinigte Jagdgewehr minutenlang auf sie anlegt. Sie rührt sich zunächst nicht, doch dann nach einer kurzen Kopfdrehung, senkt er es hastig.

 Die Erzählung gewinnt ihre Wucht vor allem aus den drei sich ergänzenden, verschiedenen Perspektiven auf das selbe Ereignis, und wie unterschiedlich es von den Frauen wahrgenommen wurde. Es ist eine Geschichte voll enttäuschter Hoffnungen, von emotionaler Kälte und Distanz, von einer selbstlosen Akzeptanz des Leidens. Diese Welt, so persönlich sie ist, erstarrt in Kälte und Einsamkeit. Yasushi Inoue, ein in Deutschland viel gelesener und bekannter Autor, Akutagawa-Preisträger und literarischer Nationalheiliger, war glücklicherweise viel übersetzt worden, und somit in Europa auch zugänglich. Der Suhrkamp Verlag erstellt regelmäßig Neuauflagen seiner Werke. Besonders empfehlen kann ich noch den Roman SCHWARZE FLUT, der als Taschenbuch, aber ebenfalls auch in der renommierten Bibliothek Suhrkamp erschienen ist. Seine Erzählungen im Band DER FÄLSCHER, erschienen beim Insel Verlag, vermochten mich nicht in gleicher Weise zu begeistern. Etlicher seiner Werke sind auch verfilmt worden, etwa von Yasuzo Masumura, Masaki Kobayashi, Kei Kumei, Hiroshi Inagaki oder Heinosuke Gosho. Dieser hat sich ganz wundervoll DAS JAGDGEWEHR angenommen, den ich hier in kurzer Form besprochen habe. Schließen möchte ich aber mit dem Verweis auf einer wunderbare Stelle aus dem Brief Saikos, die sich an ein erstes Fortreisen mit dem Geliebten erinnert (sie ist übrigens auch verheiratet): sie verlassen Kyoto und nehmen sich ein Zimmer in einer Unterkunft am Meer. Zitat: 

 "Du gebrauchtest das Wort Verbrechen zum ersten Mal im Atami-Hotel, als Du zu mir sagtest: "Wir wollen Verbrecher sein!" Erinnerst Du Dich? In der Nacht rüttelte der Sturmwind an den hölzernen Fensterläden unseres Zimmers, das auf das Meer hinausging. Gegen Mitternacht standest Du dann auf und schobst sie zurück, um den Lärm abzustellen, und da entdeckten wir auf hoher See ein Fischerboot, das so hell brannte, als hätte man eine Fackel angezündet. Wir waren gar nicht weiter bestürzt, daß sich da draußen ein paar Menschenleben in höchster Gefahr befanden, uns bewegte nur die Schönheit dieses Anblicks. Aber nachdem Du die Läden wieder geschlossen hattest, wurde ich doch unruhig und öffnete sie erneut. Das Boot war jedoch wohl schon verbrannt, ich entdeckte keine Spur mehr von ihm auf den Wellen, es breitete sich eine ungeheure, trübe Ruhe auf der dunklen Wasserfläche." (Yasushi Inoue, Das Jagdgewehr, Frankfurt am Main 1964, S. 74f.)

Michael Schleeh

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