Direkt zum Hauptbereich

Hong Kong International Film Festival 2014: Siddharth (Richie Mehta, Kanada/Indien 2013)


 Der Junge mit Namen Siddharth, um den sich hier alles dreht, taucht nicht einmal im Film auf. Er ist Leerstelle und Motor zugleich, seine Abwesenheit Bedingung. Da die Familie Saini finanziell nicht mehr zurecht kommt, schickt der Vater den Buben in den Norden des Landes in eine Fabrik. Er selbst ist ein chain-wallah, ein fahrender Reißverschlussreparateur. Er durchstreift die Metropole Delhi Tag für Tag mit seinem Megaphon und bietet seine Dienste an. Dabei kommt die Familie kaum über die Runden. Als der Sohn vier Wochen später zum Diwali (hinduistisches "Festival der Lichter") nicht nach Hause zurückkehrt, forscht man beunruhigt nach und erfährt, dass der Junge bereits vor zwei Wochen weggelaufen sei. Allerdings ohne seine Sachen mitzunehmen. Die Polizei vermutet eher: Kindesentführung.

Mahendra macht sich also, zunächst widerständig, auf die Suche nach seinem Sohn, bis dass seine Sorge so groß wird, dass sie in Verzweiflung kippt. Weder hat man genug Geld, um überhaupt mit der Suche beginnen zu können, denn man kann es sich nicht leisten, einen Arbeitstag ausfallen zu lassen, noch die Möglichkeit oder Kompetenz, sich souverän dem Problem zu stellen. SIDDHARTH ist dann insofern auch die Geschichte einer späten, zweiten Reifung des Familienoberhaupts, da der ansonsten pflichtbewusste Mahendra nun gezwungen wird, sich durchzusetzen. Auch gegenüber den Behörden. Doch sobald es um Tabu-Themen wie eben Kindesarbeit oder Kindesentführung geht, stösst er auf scheinbar unüberbrückbare Widerstände. 

Das besonders Gelungene an SIDDHARTH ist sicherlich, dass all die sozialen Aspekte, die massiv gesellschaftskritischen Sprengstoff enthalten, nur im Vorbeigehen erzählt und nicht permanent mit der Moralkeule in den Vordergrund geschoben werden. Das funktioniert vor allem über den ausgezeichneten Cast, allen voran natürlich der Protagonist Mahendra, gespielt von Rajesh Tailang. Besonders erwähnenswert auch dessen Gattin, die ihrem in allen Dingen zu defensiven Mann die notwendigen Impulse geben kann (gespielt von Tannishta Chatterjee, die man vielleicht aus dem britischen Film BRICK LANE (2007) kennt). Auch wenn der Score, der manchesmal etwas zu dick emotionalisierend aufträgt, dann übers Ziel hinausschießt, kann der Film mit seinem authentischen Ansatz, der in der Alltagsgeschichte dieser Familie verankert ist, völlig überzeugen. Der Festivalkatalog verspricht - ein wenig reißerisch - ein packendes Drama, das den Protagonisten "to the shady world of child labour" führe. Nun, und gerade das geschieht eben nicht. Auf diese "dunkle Seite" kann er sich niemals begeben, er dringt nicht zu ihr hindurch, und kann also überhaupt nichts ausrichten. Gerade diese Tatsache ist dann auch das Drama, das SIDDHARTH zugrunde liegt: die eigene Machtlosigkeit vor einem abgeriegelten System der Kriminalität, die für den Normalbürger unerreichbar bleibt. Mahendra wird dazu gezwungen, Opfer zu bleiben.

***

Beliebte Posts aus diesem Blog

Abschied

Micha hat diesen Blog fast 15 Jahre mit großer Leidenschaft geführt. Seine Liebe zum asiatischen Kino hat ihn in dieser Zeit in Kontakt mit ganz unterschiedlichen Menschen gebracht. Viele von euch waren ihm, wenn auch nicht räumlich, so doch gedanklich und emotional sehr nah. Jetzt ist er am 30.12.2021 zuhause in Bonn gestorben. Ich habe mich entschlossen, Michas Schneeland-Blog auch in Zukunft nicht offline zu stellen. So können Interessierte weiterhin all die klugen, detailgenauen und begeisternden Gedanken zum asiatischen Kino nachlesen, die er über die Jahre festgehalten hat.  Neben seinem Blog hatte Micha 2021 noch ein neues Projekt aufgenommen: Gemeinsam mit der Videokünstlerin Sandra Ehlen und Thomas Laufersweiler von SchönerDenken hatte er begonnen, in einem Podcast das filmische Werk von Keisuke Kinoshita zu besprechen. 25 Beiträge sind so bis zu Michas Tod im Dezember noch entstanden. Alle zwei Wochen erscheint nun eine Folge dieser Kinoshita-Reihe. V ielleicht eine sc...

Angry Youth in Bleak Japan: ROAR (Ryo Katayama, Japan 2019) ~ Japan Cuts online edition

Two different storylines intertwine in this hard-hitting debut from Japanese director Ryo Katayama. Which doesn't mean that it's a good film per se, but impressive on different levels nevertheless. It is a bleak world, Katayama depicts. Emotionally detached characters stumble through a Japan which is very much the opposite of the delicate and exotic Japan we know from the JTO or the Lonely Planet. Here, everybody is wounded, mentally or physically. People are violent and angry - some turn their anger against themselves. ROAR is a typical first timer fantasy: extreme, rough, disturbing, alienating, depressing, very bleak, and a little too artsy in all its overlong silent scenes. We do understand: the director is an auteur, who loves slow cinema and so he tries to implement this aspect into ROAR aswell. Which doesn't work so well, as the there's not really an overall arc of suspension that keeps everything together. My mind did start to drift off and I had problems with k...

Thittam Irandu (2021) ‘திட்டம் இரண்டு’ Directed by Vignesh Karthik

Thittam Irandu is a south Indian Tamil police procedural mixed with a nice love story that turns sour as the female detective investigates in a murder case and consecutively digs into the life of her new boyfriend . It is a very dark and atmospheric police procedural, with a hefty overstuffed script - but also with too many fade outs and accumulated scenes that make it almost impossible to find an organic flow in the long  run. It's getting quite annoying as it loses its 'natural rhythm' further down the road, if there's anything like that in filmmaking. Thittam Irandu could have been a lot better aswell with a little more effort especially in the sound department for there are endless repetitions of filler music. Wouldn't have been bad if it took care of the endless plot meanderings at the end aswell. But, there's good acting throughout, so I won't complain too much. Thittam Irandu is enjoyable for most of the running time, even though it starts to dra...