Der Junge mit Namen Siddharth, um den sich hier alles dreht, taucht nicht einmal im Film auf. Er ist Leerstelle und Motor zugleich, seine Abwesenheit Bedingung. Da die Familie Saini finanziell nicht mehr zurecht kommt, schickt der Vater den Buben in den Norden des Landes in eine Fabrik. Er selbst ist ein chain-wallah, ein fahrender Reißverschlussreparateur. Er durchstreift die Metropole Delhi Tag für Tag mit seinem Megaphon und bietet seine Dienste an. Dabei kommt die Familie kaum über die Runden. Als der Sohn vier Wochen später zum Diwali (hinduistisches "Festival der Lichter") nicht nach Hause zurückkehrt, forscht man beunruhigt nach und erfährt, dass der Junge bereits vor zwei Wochen weggelaufen sei. Allerdings ohne seine Sachen mitzunehmen. Die Polizei vermutet eher: Kindesentführung.
Mahendra macht sich also, zunächst widerständig, auf die Suche nach seinem Sohn, bis dass seine Sorge so groß wird, dass sie in Verzweiflung kippt. Weder hat man genug Geld, um überhaupt mit der Suche beginnen zu können, denn man kann es sich nicht leisten, einen Arbeitstag ausfallen zu lassen, noch die Möglichkeit oder Kompetenz, sich souverän dem Problem zu stellen. SIDDHARTH ist dann insofern auch die Geschichte einer späten, zweiten Reifung des Familienoberhaupts, da der ansonsten pflichtbewusste Mahendra nun gezwungen wird, sich durchzusetzen. Auch gegenüber den Behörden. Doch sobald es um Tabu-Themen wie eben Kindesarbeit oder Kindesentführung geht, stösst er auf scheinbar unüberbrückbare Widerstände.
Das besonders Gelungene an SIDDHARTH ist sicherlich, dass all die sozialen Aspekte, die massiv gesellschaftskritischen Sprengstoff enthalten, nur im Vorbeigehen erzählt und nicht permanent mit der Moralkeule in den Vordergrund geschoben werden. Das funktioniert vor allem über den ausgezeichneten Cast, allen voran natürlich der Protagonist Mahendra, gespielt von Rajesh Tailang. Besonders erwähnenswert auch dessen Gattin, die ihrem in allen Dingen zu defensiven Mann die notwendigen Impulse geben kann (gespielt von Tannishta Chatterjee, die man vielleicht aus dem britischen Film BRICK LANE (2007) kennt). Auch wenn der Score, der manchesmal etwas zu dick emotionalisierend aufträgt, dann übers Ziel hinausschießt, kann der Film mit seinem authentischen Ansatz, der in der Alltagsgeschichte dieser Familie verankert ist, völlig überzeugen. Der Festivalkatalog verspricht - ein wenig reißerisch - ein packendes Drama, das den Protagonisten "to the shady world of child labour" führe. Nun, und gerade das geschieht eben nicht. Auf diese "dunkle Seite" kann er sich niemals begeben, er dringt nicht zu ihr hindurch, und kann also überhaupt nichts ausrichten. Gerade diese Tatsache ist dann auch das Drama, das SIDDHARTH zugrunde liegt: die eigene Machtlosigkeit vor einem abgeriegelten System der Kriminalität, die für den Normalbürger unerreichbar bleibt. Mahendra wird dazu gezwungen, Opfer zu bleiben.
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