Man kann nun nicht gerade behaupten, dass der Tamilische Film in Westeuropa irgendeine Rolle spielen würde. Woran das liegt? Vermutlich an der üblichen kulturimperialistischen Impertinenz, die wie immer lieber Bauchnabelbeschau hält, als mal über den Tellerrand hinauszublicken. Die asiatischen Kinostarts 2015 in Deutschland zum Beispiel sprechen für sich: es ist dieses Jahr wieder einmal ein veritables Desaster, was cinephile Grenzgänger zu entnervend langen Wartezeiten auf punktuelle DVD-Veröffentlichungen zwingt, und weniger hemmungslose Ungeduldige zu den netzwärtigen Torrentseiten. Entweder kann man mit diesen Filmen tatsächlich hier überhaupt kein Geld verdienen, oder man traut ihnen nichts zu. Vermutlich liegt die Wahrheit irgendwo in der Mitte. Drei, vier einsame Seelen hätte es für diesen Nervenzertrümmerer in Berlin oder Köln vermutlich schon ins Kino getrieben, aber wer sonst sollte kommen? Das hier ist schließlich nicht LUNCHBOX mit Irrfan Khan.
Ram ist ein Regieneuling, der mit diesem Film ein fiebrig-nervöses Brett vorlegt. Es geht um einen jungen Mann (Jiiva), der sich entgegen aller Karriereprognosen darauf verlegt, Lehrer für tamilische Literatur und Sprache zu werden. Im aufkommenden IT-Boom in Indien ist man allerdings schnell desillusioniert und auch bald abgehängt: während er gerade mal 2000 Rupien verdient, geht es seinen ehemaligen Studienkollegen blendend mit monatlich 200.000 Rs auf dem Konto. Daraufhin sieht er irgendwann rot, denn eine korrupte Gesellschaft treibt ihn in den Wahnsinn: ein verkommener Cop, der ihn schikaniert, ein Freier, der seine Jugendliebe (Anjali) misshandelt, Menschen, die ihn ausnutzen und einem Elternlosen keine Chance bieten. Aus Selbstschutz landet er als Tramp auf der Strasse und nach dem ersten, wie zufällig begangenen Mord, besorgt er sich eine Knarre und nimmt das Schicksal selbst in die Hand. Nicht als cooler Killer mit Todestrieb, sondern als am Wahnsinn entlang streifender Getriebener, der um sein Überleben kämpft.
Der Film über diesen Irrsinnigen ist demnach - folgerichtig - nicht linear erzählt. Der Inhalt wird zur Form. Er beginnt mit einem versuchten Selbstmordversuch, später dann eine lange Sequenz mit einem Interview. Dort blättert er seine Lebensgeschichte auf, die dann in Flashbacks erzählt wird. Aber immer wieder driftet der Film auch ab, tief in seine verschiedenen Erzählstränge hinein, verläuft sich auch manchmal, kämpft im zweiten Drittel trotz des Geweses um die Aufmerksamkeit des Zuschauers. Am Ende ein geradezu klassischer Rahmen auf der endgültigen Reise ins Jenseits. Toll wie Ram das alles zusammenfügt, die fiebrigen Bilder, die zerrüttete Narration, die moderne, ekstatische Musik, die ganz anders als das übliche Kino von diesem Kontinent vor allem mit verstörenden Elementen zu begeistern weiß, oder auch mal mit loungigen Beats aus der Elektromaschine. Eine beeindruckende Leistung von allen Beteiligten, den Protagonisten, dem Bild, dem Schnitt, dem Buch. Die politische Dimension wäre etwas, das bei Zweitsichtung mein Interesse stärker auf sich zöge, wo etwas Recherche und Vorarbeit vonnöten wäre. Geht aber auch so, als Affektstimulans, als aufwühlendes Zeugnis einer zerrütteten Seele in moderner kapitalistischer Gesellschaft. Die zwar ein paar Gewinner, aber vor allem viele Verlierer produziert.
Michael Schleeh
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