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The World of Kanako / Kawaki (Tetsuya Nakashima, Japan 2014)


"Kanako is a hopeless lunatic." (Nami Endo)

Ständig hin und her switchend zwischen zwei Zeitebenen, der aktuellen um die Ermittlungen von Kanakos Verschwinden, der Tochter des Ex-Polizisten Akikazu Fujishima (gespielt von Kôji Yakusho), sowie einer vergangenen Ebene vor drei Jahren, die die Hintergründe des Mysteriums beleuchtet, im Schnittgewitter sich in extremen Nahaufnahmen und hektischen Detailshots in Gewaltszenen ablösend, ist The World of Kanako zunächst einmal ein sehr intensives, brutales - und verdammt anstrengendes - Filmerlebnis. Was genau mit der jungen Dame los ist - es wird erstmal ein Spritzbesteck im Schulrucksack gefunden - weiß niemand so genau, aber die Zeichen zu einer Verbindung zu Rauschgiftkreisen werden immer deutlicher. Auch in den mysteriösen Selbstmord des Mitschülers Ogata scheint Kanako verwickelt zu sein. Vater Akikazu jedenfalls hat überhaupt keine Hemmungen, seine Ermittlungen mit allerhärtesten Mittel durchzuführen. Auch die hirinrissige Idee, wieder bei seiner Ex-Frau einzuziehen (die er erstmal vermöbelt und dann vergewaltigt) lässt auf einen umnachteten Geisteszustand schließen - der Mann säuft wie ein Loch, frisst wie ein Schwein, und schlägt zu wie der hinterletzte Yakuza aus Kabukicho. Überhaupt diese permanente Gewalt gegenüber Frauen macht den Film schwer erträglich (in Japan übrigens frei ab 15 Jahren, was einen ziemlichen Skandal auslöste)! Diesem Mann will man definitiv nicht im Dunkeln begegnen. Und so geht es im Film erstmal genauso um diesen Polizisten, wie um die stets abwesende Hauptfigur Kanako, die in den Bildern auch stets weich gezeichnet wird. Nach und nach bekommt sie erst Konturen und  später auch schärfere Bilder. Und genau um diese Diskrepanz geht es: zwischen der hübschen, unschuldig wirkenden Schülerin Kanako, und der evil bitch, die Leute manipuliert, nach der Schule tief im Drogensumpf steckt und sich im Love Hotel was dazu verdient. Eine Ahnung von diesem Menschen haben, so scheint es, nur Eingeweihte, wer sie genau ist, weiß keiner. Das gilt es zu entdecken. Und darum geht es in diesem Film.

Eine Geschichte also, die tief im Pulp steckt, die vielleicht auch den Film als Exploitation-Film begreifen lassen könnte - ein Aspekt, der bei der hypermodernen, ultrarealistischen Ästhetik zuerst einmal gar nicht so nahe liegt. Das liegt auch an der hohen Geschwindigkeit der Bildwechsel, denn teilweise ist der Film irrsinnig schnell geschnitten. Auch die Dichte der Bildausschnitte, die häufig sehr am Gegenstand kleben, verhindern jede Übersicht - man steckt tief drin, und alles geht schneller, als einem lieb ist. So die formale Aussage der Montage, die den Blick des Zuschauers im engen Griff behält. Das macht Kanako übrigens ganz ähnlich wie damals schon Martyrs,  nur dass man hier natürlich im popkulturellen Großstadtdschungel verortet ist, der mit seinen neonerleuchteten Nächten, heruntergekommenen Detektiven und seduktiven Blicken der Blondinen so verführerisch abgefuckt daher kommt wie ein Film Noir im japanischen Schülerfilm. Kanako ist genreübergreifendes, cerebrales Kino, das seine Attacken in hoher Dichte auf die Iris des Betrachters prallen lässt, der seinerseits einen hellwachen Geist benötigt, um diese Fülle an Informationen und Eindrücken zu bewältigen. The World of Kanako ist ein Blick in den Abgrund, und wer da nicht ins Taumeln gerät, braucht eine Konstitution wie ein Ringkämpfer. Oder wie Detektiv Akikazu. Der hat übrigens den gesamten Film nur einen einzigen Anzug an, und der verranzt mit jeder Aktion immer noch ein bisschen mehr. Am Ende ist er völlig ruiniert. Die perfekte Entsprechung von Inhalt und Form, Körper und Geist, Psyche und äußerer Hülle: hier ist einfach alles am Arsch.

Michael Schleeh

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