Direkt zum Hauptbereich

Berlinale 2016: The Bacchus Lady (E J-yong, Südkorea 2016)


Ob er, der älter Herr, gerne ein Fläschchen Bacchus-Wasser kaufen möchte, fragt die Seniorin Youn So-young – und eigentlich meint sie damit etwas ganz anderes als das taurinhaltige Potenzgetränk: sie arbeitet als Prostituierte in einem Park und kommt auf diese Weise mit potenziellen Freiern in Kontakt, die dort spazieren gehen. Der Ort: Jongno in Seoul, ein historisches Wohn- und Stadtviertel, das sich aber auch durch seine Nightlife-Szene auszeichnet. Was mit Koreas Seniorengeneration passiert, wenn die sozialen Backup-Sicherheitsnetze wegfallen, das zeigt dieser Film schmerzhaft und doch wie nebenbei, ganz souverän auf sehr humoristische Weise. Freilich droht bei dieser ungewissen Zukunft ständig das Abdriften in völlige Altersarmut, da Youn keine Familie mehr hat, die sie unterstützn und auffangen, oder gar einen Lebensabend im Altenheim finanzieren könnte. Sie wohnt in einer kleinen Wohnung in einem Hinterhof, mit einem Transgender-Nachbarn als Vermieter und einem jugendlichen Tagedieb, der sich mit dem Verkauf von sexualisierten Tonpüppchen durchschlägt. Frau Youn hat nun auch noch ein zusätzliches Problem, denn sie hat sich einen Tripper eingefangen, der behandelt werden muss – und kommt durch eine Verkettung unglücklicher Ereignisse zu dem philippinischen Jungen Min-ho, um den sie sich kümmert, solange seine Mutter in Polizeigewahrsam ist.

THE BACCHUS LADY ist kein skandalisierter Film. Oder ein Film über Sex. Auch wenn beides natürlich thematisiert wird, und manchmal auch gar nicht auf besonders angenehme Weise. Aber mit zunehmender Laufzeit wird immer deutlicher, worum es wirklich geht in diesem Film: um Nächstenliebe. Denn die Kunden von Frau Youn sind ausschließlich ältere Herren, die kaum mehr über die Manneskraft verfügen, um sich bei einem Schäferstündchen abzureagieren. Bisweilen nimmt das eher Züge einer Sozialdienstleistung an, als dass man der kalten Nüchternheit von käuflichem Straßensex beiwohnen müsste. Oft langjährige Kunden und Wegbegleiter der Dame, sprechen sie über ihre Sorgen und vertrauen ihr persönliche Probleme an. Ganz markant eine Szene, in der einer der Kunden plötzlich nach einem Schlaganfall im Sterben liegt, und die kaltherzigen Kinder des Opas kaum Zeit für einen Krankenhausbesuch erübrigen wollen. Ganz wie deren Kinder, die hedonistischen Enkel des Kranken. Diese sind emotional völlig abgekoppelt von jedem familiären Gemeinschaftssinn und können beim Abschied, bei dem sie ihren Großvater zum vermutlich letzten Mal lebend sehen werden, kaum das Handy aus der Hand legen. Und als der Vater eine Umarmung befehlen muss, erwidert die Tochter schnippisch, er würde zu sehr stinken. Doch vor der Tür wartet Frau Youn um ihm die letzte Ehre zu erweisen und sich zu verabschieden, verbringt Zeit bei ihm, unterhält sich, wacht in der Nacht, bevor sie ihm dann sogar seinen allerletzten Wunsch erfüllt.

Dass sie dann bei mehreren ihrer Kunden plötzlich Sterbehilfe leisten soll, spricht zwar für das Vertrauen, das ihr entgegengebracht wird (und die Vereinsamung der Kranken), bringt sie freilich jedoch in eine rechtliche Zwickmühle – ganz abgesehen davon, dass Prostitution in Südkorea sowieso verboten ist, und man ständig auf der Hut sein muss. Frau Youn hat ein großes Herz, und obwohl das natürlich ein mehr oder weniger doofes Klischee ist, die „Prostituierte mit dem großen Herzen“, schafft es der Film, diese Ereignisse völlig glaubhaft zu vermitteln und jede Penetranz, jeden Nerv- und Gähnfaktor gar nicht erst aufkommen zu lassen. Das liegt zum einen an der unaufgeregten Inszenierung, und nicht zuletzt an der wunderbaren Darstellung der Youn So-young von Hauptdarstellerin Youn Yuh-jung, die seit über 40 Jahren im südkoreanischen Filmgeschäft tätig ist und schon Filme mit Kim Ki-young gemacht hat. Jüngere Filme mit ihr, etwa in den Filmen von Hong Sang-soo, sind HAHAHA, IN ANOTHER COUNTRY, HILL OF FREEDOM und zuletzt RIGHT NOW, WRONG THEN. Auch in THE BACCHUS LADY kann sie mit ihrer zurückhaltenden, aber nuancierten Darstellung völlig überzeugen.

Michael Schleeh

***

Beliebte Posts aus diesem Blog

Tora-san: Our Lovable Tramp / Otoko wa tsurai yo / Tora-San 1 (Yoji Yamada, Japan 1969)

Nach zwanzig langen Jahren des Umherstreifens kehrt Torajiro (Kiyoshi Atsumi) nach Hause zurück: nach Shibamata, einem Vorort von Tokyo. Seine Schwester Sakura (Chieko Baisho) lebt mittlerweile bei Onkel und Tante, da die Eltern verstorben sind. Dort wird er mit offenen Armen empfangen, auch wenn alle wissen, was er für ein Herumtreiber ist. Sakura steht kurz vor der Hochzeit mit dem Sohn eines reichen Industriellen. Somit wäre für ihre Absicherung gesorgt. Zum gemeinsamen Essen mit dessen Eltern nimmt sie Tora als Begleitung mit; das allerdings war ein Fehler: in fantastisch kopfloser Weise betrinkt er sich und ruiniert mit seiner gespielten weltläufigen Gesprächsführung die Zusammenkunft - er verstößt in jeder Form gegen die gebotene Etiquette. Wie er auch im Folgenden, wenn er sich in die Brust wirft, um etwas für andere zu regeln, ein pures Chaos schafft und alles durcheinander bringt. Der Film allerdings ist keine reine Komödie. Denn Tora werden die Verfehlungen vorgehal

Abschied

Micha hat diesen Blog fast 15 Jahre mit großer Leidenschaft geführt. Seine Liebe zum asiatischen Kino hat ihn in dieser Zeit in Kontakt mit ganz unterschiedlichen Menschen gebracht. Viele von euch waren ihm, wenn auch nicht räumlich, so doch gedanklich und emotional sehr nah. Jetzt ist er am 30.12.2021 zuhause in Bonn gestorben. Ich habe mich entschlossen, Michas Schneeland-Blog auch in Zukunft nicht offline zu stellen. So können Interessierte weiterhin all die klugen, detailgenauen und begeisternden Gedanken zum asiatischen Kino nachlesen, die er über die Jahre festgehalten hat.  Neben seinem Blog hatte Micha 2021 noch ein neues Projekt aufgenommen: Gemeinsam mit der Videokünstlerin Sandra Ehlen und Thomas Laufersweiler von SchönerDenken hatte er begonnen, in einem Podcast das filmische Werk von Keisuke Kinoshita zu besprechen. 25 Beiträge sind so bis zu Michas Tod im Dezember noch entstanden. Alle zwei Wochen erscheint nun eine Folge dieser Kinoshita-Reihe. V ielleicht eine schöne

Kandagawa Wars / Kandagawa Inran Senso (Kiyoshi Kurosawa, Japan 1983)

Zwei aufgedrehte Mädels beobachten mit ihren Ferngläsern des Nachts nicht nur die Sterne am Firmament, nein, sondern auch den Wohnblock auf der anderen Seite des Flusses gegenüber. Dort nämlich spielt sich Ungeheuerliches ab: ein junger Mann, der sich für Godard, John Ford, Deleuze und seine Querflöte interessiert, wird von seiner Mutter in regelmäßigen Abständen zum Geschlechtsverkehr gezwungen. Diese inzestuöse Schweinerei können die beiden nicht mehr länger tolerieren und so planen sie, den Unterdrückten aus seiner Sexhölle zu befreien - um ihn selbst zu besteigen, quasi als Heilmittel. Dabei haben sie nicht bedacht, dass der junge Herr vielleicht sogar ganz glücklich war mit seinem Muttersöhnchenstatus. Einmal fremdgegangen, will er sich direkt von der Brücke stürzen. Zudem wäre auch im eigenen Bette zu kehren: denn eine der beiden aufgeweckten Freiheitskämpferinnen wird selbst recht ordenlich unterdrückt. Ein ekliger Brillentyp, sowas wie ihr Freund, besteigt sie in unersättli