Es sind diese schönen Schneebilder, eigentlich auch sehr stürmisch sind sie, die den Film gegen Ende immer noch entrückter, dunkler und beglückender werden lassen. Das Finale dann auf einem Friedhof zwischen Grabsteinen, beinahe wie in einem Italo-Western: überall liegen die Leichen herum, Blut im Schnee. Deckung hinter den Grabsteinen. Angefangen hatte alles viel früher, als die Sonne noch schien - und bevor sich Haider im Wahnsinn verlor (den er nur vorspielt, vielleicht, die Verzweiflung ist aber echt) um seinen Vater zu rächen. Hier in dieser indischen Shakespeare-Adaption ein Arzt, der dem Rebellenkämpfer einer Separatistengruppe eine lebensnotwendige Operation angedeihen lässt, obwohl er sich selbst und seine Familie damit kompromittiert. Und just an diesem Tag fällt die indische Armee ein, in diesem kleinen Dorf in Kaschmir, um es zu durchforsten. Es ist Mitte der 90er, der Höhepunkt des Kaschmir-Konflikts zwischen Indien und Pakistan, der auf dem Rücken der Zivil-Bevölkerung ausgetragen wird. Haider, der Sohn, Student und Dichter, kehrt nach Hause zurück, da nun auch sein Vater zu den verschwundenen Zivilisten gehört. Seine Mutter hat beim nach Macht strebenden Onkel allzu schnell Unterschlupf gefunden, aber das eigene Haus liegt auch in Trümmern. Haider stolpert durch die Ruine, sinnbildlich durch die Überreste seiner Familie.
Shakespeares's Hamlet wurde von Vishal Barwaj und Basharat Peer, einem Journalisten aus Kaschmir, zu einem zeitgenössisch-historischen crime drama geformt, das seinesgleichen sucht. Es ist schon die dritte Adaption von Bardwaj, nach MAQBOOL (Macbeth) UND OMKARA (Othello). Und es ist ein großartiger Film. Hochspannend, toll gefilmt, großartige Musik und mitreißend gespielt. Dabei ist der sehr zurückhaltend agierende Hamlet, Shahid Kapoor, noch nicht einmal die Trumpfkarte. Viel eher noch seine Mutter Ghazala (Gertrud), gespielt von der sagenhaften Tabu, und der aus dem Gefängnis zurückkehrende Geist seines Vaters, hier als weltliche Person manifest, dabei aber dennoch ein teuflischer Einflüsterer und in einem ausgedehnten Cameo: Irrfan Khan als Roohdaar. Die beiden dominieren jede Szene - wenn das nicht sowieso die Action, die Landschaft, oder die Dialoge bereits tun. HAIDER entwickelt sich dann mit laufender Spielzeit immer mehr zu einem Vewirrspiel um Macht, Schuld und Rache, bei dem zwangsläufig früher oder später einige Figuren auf der Strecke bleiben müssen.
Eindrucksvoll dann auch die berühmte Theater-im-Theater-Szene, in der Haider/Hamlet bei der Hochzeit des Onkels mit der Mutter die Intrige dem Publikum als Theaterszene - hier als Song- und Tanznummer (Bismil) - vorführt. Der Familienkonflikt, das Herzstück des Films, in einen schrägen Song mit ungewöhnlichem Rhythmus verpackt, draußen im Schnee, in einer Ruine, aufgeführt mit einer zweigesichtigen Riesenpuppe. Diese soll das wahre Gesicht der teuflischen Verschwörung veranschaulichen und beschuldigt Claudius/Khurram Meer, den eigenen Bruder beiseite geschafft zu haben. Auf die volle Spielfilmlänge von 2.40 Stunden gesehen hat HAIDER dann doch mit ein paar wenigen Unebenheiten zu kämpfen, worauf die recht frühe Intervals-Pause nach bereits einer Stunde hinweist (allerdings ist hier die Welt ja auch aus den Fugen geraten). Im zweiten Teil dann mehr Dialog- und Musikszenen, mehr Charakterentwicklung. Im ersten wird dankenswerterweise recht viel Zeit auf die Erklärung der politische Lage veranschlagt, mit der vielleicht nicht jeder Zuschauer so vertraut ist. Eine sehr gelungene Adaption, wie ich finde, die mit einem stärkeren Hamlet womöglich ein echtes Meisterwerk geworden wäre. Dennoch ein völlig großartiger Film.
Michael Schleeh
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