Direkt zum Hauptbereich

Big Bang Love, Juvenile A / 46 okunen no koi (Takashi Miike, Japan 2005)

[Japanese Film Blogathon 2010]


In einem ungenannten Gefängnis irgendwo auf dem Planeten Erde, zu einer unbekannten Zeit: zwei junge Männer (Ryuhei Matsuda und Masanobu Ando) werden inhaftiert, die beide einen Mord begangen haben. Sie freunden sich an, Homoerotik liegt in der Luft. Da wird der stark tätowierte Shiro, der gewalttätige der beiden, tot aufgefunden. Zwei Ermittler versuchen den Mörder zu finden...

So könnte man in groben Zügen eine der Lesarten der Handlung dieses Films zusammenfassen - und hat ihn doch, reduziert auf Inhaltliches, zugleich überhaupt nicht erfasst. Denn dieser Film verweigert sich nicht nur einer herkömmlichen Narration, die sich an einer Chronologie der Ereignisse entlangzuhangeln gewohnt ist, er verweigert sich über traumhafte, subjektive, und surreale Szenen per se einer Kohärenz und einem normalen Logikverständnis auf fast allen Ebenen. Inhaltlich, wie formal. Man scheint hier hinter den Gefängnismauern eine eigene Welt zu betreten.
Hatte Takashi Miike 2004 mit DEMON POND ein Theaterstück verfilmt, so scheint nun das komplementäre Gegenstück vorzuliegen: ein Film, der wie ein Theaterstück inszeniert wurde, sich einem solchen zumindest sehr stark annähert.

Eine Spur, die also durch den Film führen kann, sind die Räume. Man befindet sich zwar in einem Gefängnis, dieses ist aber äußerst heterogen gestaltet. Eine Zelle mit 6 Gefangenen ist der Ort, der noch am realistischsten gezeigt wird; doch über Juns Bett befindet sich ein Loch in der dünnen Wand, durch das er nach draußen sehen kann. Dort sieht er eine riesige Rakete und eine Maya-Pyramide - Raum als feste Kategorie löst sich auf, wird zum individuellen Vorstellungsraum, den Miike hierarchisch auf gleicher Ebene ins Bild setzt, wie der quasi-realistische Gefängnisraum. Hier wird deutlich, wie einfach zugleich und raffiniert die Verstörung Einzug erhält: läßt man die gewohnten Marker der verschiedenen fiktionalen Ebenen weg, erscheint dem Rezipienten, was sonst im Film gekennzeichnet und gewichtet würde, alles gleichsamt "real" (innerhalb der Fiktion).
Man zerstörtt die strukturelle Ordnung und die Orientierung durch eine Auflösung der Hierarchien.

Was auf eine Gleichzeitigkeit des Ortes, aller Orte, verweist. Aber auch auf eine Aufhebung der fortlaufenden Zeit. Der japanische Titel lautet genauer übersetzt 46 Millionen Jahre Liebe, was auf ein euphorisch-romantisches 'ewige Liebe'-Konzept anspielt, die man im Film verzweifelt zu verorten sucht.
Nochmal die Orte: die beiden Hauptdarsteller befinden sich im Freigang dann auch vor dieser Pyramide auf dem offenen Feld und unterhalten sich, ohne miteinander zu sprechen. Die Sprache fließt, ohne daß sie die Lippen bewegen würden. Überhaupt verselbständigt sich die Sprache permanent im Film: sie strukturiert ihn in Kapitel, erscheint als Texttafel etwa beim Verhör des Gefängnisdirektors, wird von einem Erzähler geflüstert. Das erzählte Material lagert sich auf einer großen Fläche ab wie in einer Versuchsanordnung, einem Experiment vor dem Experiment. Entsprechend rudimentär darf gestaltet werden: der Essenssaal zum Beispiel sieht - im Gegensatz zur Zelle - wie ein Trierscher Raum aus, einen den man bereits aus DOGVILLE kennt. Oder eben wie eine Theaterbühne. Während draußen die Rakete startet, hinein in einen rotgefärbten CGI-Himmel.

Mag sich das nun alles sehr verstörend und kompliziert bemüht lesen: dieser Film scheint ein gut durchdachtes Konstrukt zu sein, das in seiner Vielgestalt(et)heit aufzugehen scheint und einen eigenen Sog (also so etwas wie Spannung) entwickelt. Hier kann mit mehreren Sichtungen sicherlich viel rausgeholt werden, der Eindruck der Willkürlichkeit stellt sich während der Sichtung nicht ein. Man ist sich der ständig frei flottierenden gesellschaftlich-kulturellen Referenzen bewußt, ohne daß dies penetrant umgesetzt wirken würde, oder allzu metaphernbelastet. Gerahmt wird der Film denn auch von einem Erzähler; die Kamera geht an, man sieht eine Klappe, und los geht's. Die Fiktion steht neben dir, als Realität. Film als Möglichkeitsraum. Du mußt nur mal durch das Objektiv schauen - oder durch die Scheibe in deiner Zelle zuhause.

Beliebte Posts aus diesem Blog

Abschied

Micha hat diesen Blog fast 15 Jahre mit großer Leidenschaft geführt. Seine Liebe zum asiatischen Kino hat ihn in dieser Zeit in Kontakt mit ganz unterschiedlichen Menschen gebracht. Viele von euch waren ihm, wenn auch nicht räumlich, so doch gedanklich und emotional sehr nah. Jetzt ist er am 30.12.2021 zuhause in Bonn gestorben. Ich habe mich entschlossen, Michas Schneeland-Blog auch in Zukunft nicht offline zu stellen. So können Interessierte weiterhin all die klugen, detailgenauen und begeisternden Gedanken zum asiatischen Kino nachlesen, die er über die Jahre festgehalten hat.  Neben seinem Blog hatte Micha 2021 noch ein neues Projekt aufgenommen: Gemeinsam mit der Videokünstlerin Sandra Ehlen und Thomas Laufersweiler von SchönerDenken hatte er begonnen, in einem Podcast das filmische Werk von Keisuke Kinoshita zu besprechen. 25 Beiträge sind so bis zu Michas Tod im Dezember noch entstanden. Alle zwei Wochen erscheint nun eine Folge dieser Kinoshita-Reihe. V ielleicht eine sc...

House Owner (2019) ‘ஹவுஸ் ஓனர்’ (directed by Lakshmi Ramakrishnan)

 Während der Regenzeit in Chennai geht ein zurückgezogen lebendes, älteres Ehepaar durch turbulente Zeiten. Anstatt sich den Lebensabend zu versüßen, sind sie in einer endlosen Spirale der Beziehungshölle gefangen - und zwar deswegen, weil der Ehemann an Alzheimer erkrankt ist. In dieser schwierigen Situation managt die Ehefrau den gesamten Haushalt - aber nicht nur das. Sie kümmert sich freilich um alles und erträgt auch die ruppige Art des ehemaligen Armeegenerals, der sich seiner eigenen Krankheit nicht bewußt ist. Die Schärfe in der Stimme, den ehemaligen Kasernenhof-Ton, hat er leider aber nicht vergessen.    Sriranjini ist dann auch die heimliche Protagonistin und generell die Hauptfigur in diesem aufs Nötigste reduzierten Drama, die alles überstrahlt - und sie meistert die Rolle großartig. Immer wieder bricht der Film aus der aktuellen Zeitschiene aus und springt hinüber auf eine andere, vergangene. Sie zeigt, wie es früher war. Wie sich die beiden kennenlernten...

Thittam Irandu (2021) ‘திட்டம் இரண்டு’ Directed by Vignesh Karthik

Thittam Irandu is a south Indian Tamil police procedural mixed with a nice love story that turns sour as the female detective investigates in a murder case and consecutively digs into the life of her new boyfriend . It is a very dark and atmospheric police procedural, with a hefty overstuffed script - but also with too many fade outs and accumulated scenes that make it almost impossible to find an organic flow in the long  run. It's getting quite annoying as it loses its 'natural rhythm' further down the road, if there's anything like that in filmmaking. Thittam Irandu could have been a lot better aswell with a little more effort especially in the sound department for there are endless repetitions of filler music. Wouldn't have been bad if it took care of the endless plot meanderings at the end aswell. But, there's good acting throughout, so I won't complain too much. Thittam Irandu is enjoyable for most of the running time, even though it starts to dra...