Direkt zum Hauptbereich

Graceland (Ron Morales, Philippinen 2012)


Der Tag, an dem das Chaos hereinbricht. Es ist der schlimmste Tag im Leben Marlons, eines Chauffeurs, und das Desaster beginnt mit einer folgenschweren Verwechslung: da wird die eigene Tochter anstelle der seines Chefs entführt. Eigentlich hatten die Täter es auf die Tochter des reichen Politikers Changho (Menggie Cobarrubias) abgesehen, zwecks Lösegelderpressung. Marlon Villar (Arnold Reyes) wird bald zu allem Überfluß auch noch von Ramos, dem ermittelnden Polizisten, der Mittäterschaft im Erpressungsfall bezichtigt. Der Job ist alles was er hat, mit seiner Familie lebt er am Existenzminimum in einer Bruchbude am Rande eines Slums. Und nun wird er von den Entführern und der Polizei mitten hineingezogen wie eine Spielfigur, deren Schicksal den Mächtigen und den Autoritäten sowieso völlig egal ist. Reyes, der sehr viel fürs Fernsehen gemacht hat, spielt sehr gut, wie auch die anderen Charaktere zu überzeugen wissen. Der Film entwickelt einen starken Sog - und bleibt allein schon deswegen spannend, weil man nie genau weiß, ob er nun vielleicht nicht doch etwas mit der Entführung zu tun hat - man denkt eigentlich, er sei ein völlig aufrichtiger Mensch. Geschickt werden hier verunsichernde Fährten gelegt.

Ansonsten ist der Film einem typischen Handheld-Wackelkamera-Realismus verpflichtet, dessen Pixelbrei authentisches, reales Leben vorgaukeln soll. Wobei der Höhepunkt sicher ein Besuch in einem (echten) Bordell ist, wo dem Kunden minderjährige Mädchen und Knaben angeboten werden. Wie beiläufig werden diese Bilder gezeigt, und umso schmerzhafter nimmt man sie wahr. So hat der eigentliche Übeltäter, der freilich der mächtige Politiker Changho ist, bald ein Problem - denn seine Machenschaften und perversen sexuellen Gelüste, die zudem auch die Ursache für Marlons Desaster sind, werden aufgedeckt. Aus dem Film schält sich nach und nach ein Rachefilm heraus, mit einem Täter, der einen "guten Grund" für seine Tat hat: die ursprüngliche Prämisse, die schockierende, wird nun moralisch abgesichert. Das ist vielleicht sogar sehr ärgerlich, da nun im Nachhinein die Tat des Entführers wenn nicht gerechtfertigt, so doch nachvollziehbar und verständlich wird.

Dies ist auch die Crux von GRACELAND: die Frage nach dem Umgang mit der Moral. Der Zuschauer wird in ein Wechselbad der Gefühle gezwungen, wenn sich nach etlichen Wendungen und Plottwists herausstellt, dass die Übeltäter eigentlich die Guten sind, und vice versa die Guten die Bösen. In dieser Gesellschaft, in der sowieso alles kaputt und korrupt ist. Was sich auch in der Figur des Polizisten Ramos offenbart, der zwar korrupt ist, aber kein "schlechter Mensch". Die Koordinaten für einen Gesellschaftsvertag sind verloren gegangen. In GRACELAND gibt es überhaupt keine Hoffnung. Dennoch bleibt die Frage: ist das nicht alles ein bisschen viel, was da aufgetürmt wird? Was da alles auf dem Rücken Marlons abgeladen wird? Ist das nicht zuviel?

Der Zuschauer jedenfalls beginnt sich dann tatsächlich zum Protagonisten zu distanzieren; immerhin haben wir es mit einigen Toten zu tun, mit Menschenhandel und Kinderprostitution. Sollte Marlon da irgendwie mit involviert sein, muss ihm freilich die Sympathie entzogen werden. Die Verunsicherung des Zuschauers, die eine wirkliche Qualität des Films ist, schleicht sich ein wie eine Krankheit und ich weiß nicht, warum man sich noch Filme wie TAKEN 2 anschauen sollte, wenn es solche wie diesen hier gibt. GRACELAND, der immer hochspannend und excellent gespielt ist, hätte, vielleicht an der einen oder anderen Stelle etwas schlichter konstruiert, noch besser sein können. Aber auch so kann man sich nicht beklagen. Dieser Film ist ein ziemliches Brett.

***

Beliebte Posts aus diesem Blog

Abschied

Micha hat diesen Blog fast 15 Jahre mit großer Leidenschaft geführt. Seine Liebe zum asiatischen Kino hat ihn in dieser Zeit in Kontakt mit ganz unterschiedlichen Menschen gebracht. Viele von euch waren ihm, wenn auch nicht räumlich, so doch gedanklich und emotional sehr nah. Jetzt ist er am 30.12.2021 zuhause in Bonn gestorben. Ich habe mich entschlossen, Michas Schneeland-Blog auch in Zukunft nicht offline zu stellen. So können Interessierte weiterhin all die klugen, detailgenauen und begeisternden Gedanken zum asiatischen Kino nachlesen, die er über die Jahre festgehalten hat.  Neben seinem Blog hatte Micha 2021 noch ein neues Projekt aufgenommen: Gemeinsam mit der Videokünstlerin Sandra Ehlen und Thomas Laufersweiler von SchönerDenken hatte er begonnen, in einem Podcast das filmische Werk von Keisuke Kinoshita zu besprechen. 25 Beiträge sind so bis zu Michas Tod im Dezember noch entstanden. Alle zwei Wochen erscheint nun eine Folge dieser Kinoshita-Reihe. V ielleicht eine schöne

House Owner (2019) ‘ஹவுஸ் ஓனர்’ (directed by Lakshmi Ramakrishnan)

 Während der Regenzeit in Chennai geht ein zurückgezogen lebendes, älteres Ehepaar durch turbulente Zeiten. Anstatt sich den Lebensabend zu versüßen, sind sie in einer endlosen Spirale der Beziehungshölle gefangen - und zwar deswegen, weil der Ehemann an Alzheimer erkrankt ist. In dieser schwierigen Situation managt die Ehefrau den gesamten Haushalt - aber nicht nur das. Sie kümmert sich freilich um alles und erträgt auch die ruppige Art des ehemaligen Armeegenerals, der sich seiner eigenen Krankheit nicht bewußt ist. Die Schärfe in der Stimme, den ehemaligen Kasernenhof-Ton, hat er leider aber nicht vergessen.    Sriranjini ist dann auch die heimliche Protagonistin und generell die Hauptfigur in diesem aufs Nötigste reduzierten Drama, die alles überstrahlt - und sie meistert die Rolle großartig. Immer wieder bricht der Film aus der aktuellen Zeitschiene aus und springt hinüber auf eine andere, vergangene. Sie zeigt, wie es früher war. Wie sich die beiden kennenlernten, wie er um si

Thittam Irandu (2021) ‘திட்டம் இரண்டு’ Directed by Vignesh Karthik

Thittam Irandu is a south Indian Tamil police procedural mixed with a nice love story that turns sour as the female detective investigates in a murder case and consecutively digs into the life of her new boyfriend . It is a very dark and atmospheric police procedural, with a hefty overstuffed script - but also with too many fade outs and accumulated scenes that make it almost impossible to find an organic flow in the long  run. It's getting quite annoying as it loses its 'natural rhythm' further down the road, if there's anything like that in filmmaking. Thittam Irandu could have been a lot better aswell with a little more effort especially in the sound department for there are endless repetitions of filler music. Wouldn't have been bad if it took care of the endless plot meanderings at the end aswell. But, there's good acting throughout, so I won't complain too much. Thittam Irandu is enjoyable for most of the running time, even though it starts to dra