Der Tag, an dem das Chaos hereinbricht. Es ist der schlimmste Tag im Leben Marlons, eines Chauffeurs, und das Desaster beginnt mit einer folgenschweren Verwechslung: da wird die eigene Tochter anstelle der seines Chefs entführt. Eigentlich hatten die Täter es auf die Tochter des reichen Politikers Changho (Menggie Cobarrubias) abgesehen, zwecks Lösegelderpressung. Marlon Villar (Arnold Reyes) wird bald zu allem Überfluß auch noch von Ramos, dem ermittelnden Polizisten, der Mittäterschaft im Erpressungsfall bezichtigt. Der Job ist alles was er hat, mit seiner Familie lebt er am Existenzminimum in einer Bruchbude am Rande eines Slums. Und nun wird er von den Entführern und der Polizei mitten hineingezogen wie eine Spielfigur, deren Schicksal den Mächtigen und den Autoritäten sowieso völlig egal ist. Reyes, der sehr viel fürs Fernsehen gemacht hat, spielt sehr gut, wie auch die anderen Charaktere zu überzeugen wissen. Der Film entwickelt einen starken Sog - und bleibt allein schon deswegen spannend, weil man nie genau weiß, ob er nun vielleicht nicht doch etwas mit der Entführung zu tun hat - man denkt eigentlich, er sei ein völlig aufrichtiger Mensch. Geschickt werden hier verunsichernde Fährten gelegt.
Ansonsten ist der Film einem typischen Handheld-Wackelkamera-Realismus verpflichtet, dessen Pixelbrei authentisches, reales Leben vorgaukeln soll. Wobei der Höhepunkt sicher ein Besuch in einem (echten) Bordell ist, wo dem Kunden minderjährige Mädchen und Knaben angeboten werden. Wie beiläufig werden diese Bilder gezeigt, und umso schmerzhafter nimmt man sie wahr. So hat der eigentliche Übeltäter, der freilich der mächtige Politiker Changho ist, bald ein Problem - denn seine Machenschaften und perversen sexuellen Gelüste, die zudem auch die Ursache für Marlons Desaster sind, werden aufgedeckt. Aus dem Film schält sich nach und nach ein Rachefilm heraus, mit einem Täter, der einen "guten Grund" für seine Tat hat: die ursprüngliche Prämisse, die schockierende, wird nun moralisch abgesichert. Das ist vielleicht sogar sehr ärgerlich, da nun im Nachhinein die Tat des Entführers wenn nicht gerechtfertigt, so doch nachvollziehbar und verständlich wird.
Dies ist auch die Crux von GRACELAND: die Frage nach dem Umgang mit der Moral. Der Zuschauer wird in ein Wechselbad der Gefühle gezwungen, wenn sich nach etlichen Wendungen und Plottwists herausstellt, dass die Übeltäter eigentlich die Guten sind, und vice versa die Guten die Bösen. In dieser Gesellschaft, in der sowieso alles kaputt und korrupt ist. Was sich auch in der Figur des Polizisten Ramos offenbart, der zwar korrupt ist, aber kein "schlechter Mensch". Die Koordinaten für einen Gesellschaftsvertag sind verloren gegangen. In GRACELAND gibt es überhaupt keine Hoffnung. Dennoch bleibt die Frage: ist das nicht alles ein bisschen viel, was da aufgetürmt wird? Was da alles auf dem Rücken Marlons abgeladen wird? Ist das nicht zuviel?
Der Zuschauer jedenfalls beginnt sich dann tatsächlich zum Protagonisten zu distanzieren; immerhin haben wir es mit einigen Toten zu tun, mit Menschenhandel und Kinderprostitution. Sollte Marlon da irgendwie mit involviert sein, muss ihm freilich die Sympathie entzogen werden. Die Verunsicherung des Zuschauers, die eine wirkliche Qualität des Films ist, schleicht sich ein wie eine Krankheit und ich weiß nicht, warum man sich noch Filme wie TAKEN 2 anschauen sollte, wenn es solche wie diesen hier gibt. GRACELAND, der immer hochspannend und excellent gespielt ist, hätte, vielleicht an der einen oder anderen Stelle etwas schlichter konstruiert, noch besser sein können. Aber auch so kann man sich nicht beklagen. Dieser Film ist ein ziemliches Brett.
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