Nachdem Shunji Iwai für zumindest europäische Kinobegeisterte eine knappe Dekade lang ziemlich von der Bildfläche verschwunden war (was zwar nicht ganz der Wirklichkeit entspricht, aber auch nicht ganz von der Hand zu weisen ist, wenn man die reine Spielfilm-Produktion betrachtet), erscheinen nun in kurzem Abstand zwei neue Filme des Meisters von ALL ABOUT LILI CHOU-CHOU und LOVE LETTER (hier das Review zu THE CASE OF HANA & ALICE). RIP VAN WINKLE ist hier in Hong Kong gerade regulär mit einem kleinen, limitierten Start angelaufen. Aber dass starkes Interesse besteht, ist überdeutlich: die Vormittagsvorstellung, die ich besuchen konnte, war bis auf fünf Plätze ausverkauft - und der Film läuft schon seit knapp einer Woche mit mindestens zwei Vorstellungen am Tag. So sehr ich mich darüber gefreut habe, so sehr hat mich jedoch der Film wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Denn mit der Euphorie war es spätestens in der zweiten Spielfilmhälfte vorbei.
Die junge Nanami (Haru Kuroki) schlägt sich als Teilzeit-Lehrerin durch und ist ein von Natur aus ziemlich schüchternes Wesen. Das bereitet einige Probleme, etwa wenn die Schüler ihrer Klasse sich über sie lustig machen, sie nicht wirklich ernst genommen wird. Eines Tags spielen sie ihr einen Streich und legen ein Mikrofon aufs Lehrerpult: Sie solle bitte von nun an das Ding benutzen, man könne sie so schlecht verstehen. Was wohl irgendwie auch nicht ganz von der Hand zu weisen ist, ganz verschüchtert flüstert sie mehr, als dass sie autoritär ihre Stimme gebrauchen würde. Nach kurzer Unsicherheit greift sie zum Mikrofon und beginnt die Stunde. Die Schüler brechen in schallendes Gelächter aus und verspotten die arme. Das alles hat auch ein folgenschweres Nachspiel, da sie nun erstmal zum Rektor darf und später dann sogar den Job verliert. Sie wäre nicht souverän genug als Lehrerin. Von da an setzt eine geradezu mysteriöse Abwärtsspirale in ihrem Leben ein, da sie nun ohne Anstellung ist. Zugleich allerdings hat sie über eine online-Dating-Webseite einen jungen Mann namens Tetsuya (Gô Jibiki) kennengelernt, der es ihr sehr angetan hat. Und sie ihm. Kurze Zeit später heiraten die beiden, allerdings ohne sich richtig zu kennen. Da Nanami aber ein schlechtes Verhältnis zu ihren Eltern hat - welche beinahe schon geschieden sind-, und auch sonst mit wenig Standards dienen kann, die die japanische Gesellschaft von ihr verlangt, so wie etwa eine große Verwandtschaft, heuert sie beim windigen Unternehmer Amuro "Familienmitglieder" für die Hochzeit an, die eben diese für einen Tag lang spielen sollen. Nicht unüblich in Japan, wie man lernt. Was sich freilich schleichend etabliert, das ist ein Ebene der Täuschung, der Lüge, des Ungewissen und des Mysteriums im Leben der jungen Frau. Sie hatte natürlich immer aus einer gewissen Not heraus und nach bestem Wissen gehandelt, doch mit wem sie sich eingelassen hat, das kann sie unmöglich wissen. Das betrifft sowohl ihren Mann, als auch den zwielichtigen Unternehmer Amuro, der jede Dienstleistung anbietet (ein typischer "jack-of-all-trades"), die er stemmen kann.
Shunji Iwai zeichnet diesen Amuro als manipulative Karikatur, mit stets neuer Verkleidung, neuen Visitenkarten, mit mysteriöser abgedunkelter Brille, plötzlich wie aus dem Nichts auftauchend, Nanami immer zu etwas drängend, was "gut für sie" sei. Das ist mehrfach an der Grenze zur Übergriffigkeit, und freilich fragt man sich, was er mit ihr wohl anstellen will, wohin er sie lotst. Sie aber kann sich kaum wehren, ist tatsächlich manchmal ein ziemliches Schaf und lässt sich allzu leicht zu Dingen bringen, die gegen ihren Willen sind. Man befürchtet das Schlimmste. Und manchmal lässt einen Iwai dann auch hinter die Fassade dieses Amuro schauen, etwa wenn er sie vor einer vorgetäuschten Vergewaltigung rettet, ein abgekartetes, sehr grausames Spiel, dann steht Amuro als strahlender Retter da, auf den sich die junge Frau verlassen könne. Und sie wird, tatsächlich immer stärker von ihm abhängig. So zerstört er alle verlässlichen Pfeiler ihres bürgerlichen Lebens: ihre Ehe, ihren Beruf, ihre Bleibe. Bis er sie schließlich dort hat, wo er sie haben möchte: in einem riesigen Anwesen an den Grenzen der Stadt - wie in einem Märchen. Mittlerweile hat sie auch eine mysteriöse Frau kennengelernt (die dürre Grazie Cocco, die man etwa aus Tsukamotos KOTOKO kennt), mit der sie sich anfreundet. Dann stellt sich wieder heraus, dass ihr das Anwesen gehört und Nanami deren Angestellte ist.
Man sieht, es geht recht konfus zu in diesem Iwai. Immer noch eine Plotschleife, immer noch eine Manipulation, immer noch eine Unwahrscheinlichkeit mehr. Die Atmosphäre der subtilen Bedrohung, die in der ersten Filmhälfte sauber aufgebaut wird, zerstört sich durch die immer kurioseren Zusammenhänge sukzessive selbst. Der Film wird das Ungetüm eines märchenhaften "anything goes", bei dem man immer weniger gewillt ist, mitzugehen. Das Anhäufen gerät so zum Überhäufen, und die eigentlich schlanke Plotlinie des Anfangs wird durch den Erfindungsreichtum des Drehbuchs erstickt. Man gewinnt den Eindruck, dass in diesem Film viele Filme stecken. Dass hier jemand zu lange an einem Drehbuch gesessen und dabei das Gefühl für die richtigen Proportionen verloren hat (Iwai selbst). Es hat sich in mir verstärkt dann ein immer größer werdendes Gefühl des Unmuts geregt, das mir den Film beinahe verleidet hätte. Bevor er dann ganz am Ende mit einer absurden Szene endet - die allerdings auch deutlich macht, wie sehr die Anti-Heldin die Übersicht über ihr eigenes Leben verloren hat. Ganz so, scheint mir, wie der Regisseur die Übersicht über seinen eigenen Film.
Michael Schleeh
P.S.: Gesehen habe ich die zweistündige Fassung. Es gibt außerdem noch einen (um eine Stunde längeren) dreistündigen Director's Cut.
Shunji Iwai zeichnet diesen Amuro als manipulative Karikatur, mit stets neuer Verkleidung, neuen Visitenkarten, mit mysteriöser abgedunkelter Brille, plötzlich wie aus dem Nichts auftauchend, Nanami immer zu etwas drängend, was "gut für sie" sei. Das ist mehrfach an der Grenze zur Übergriffigkeit, und freilich fragt man sich, was er mit ihr wohl anstellen will, wohin er sie lotst. Sie aber kann sich kaum wehren, ist tatsächlich manchmal ein ziemliches Schaf und lässt sich allzu leicht zu Dingen bringen, die gegen ihren Willen sind. Man befürchtet das Schlimmste. Und manchmal lässt einen Iwai dann auch hinter die Fassade dieses Amuro schauen, etwa wenn er sie vor einer vorgetäuschten Vergewaltigung rettet, ein abgekartetes, sehr grausames Spiel, dann steht Amuro als strahlender Retter da, auf den sich die junge Frau verlassen könne. Und sie wird, tatsächlich immer stärker von ihm abhängig. So zerstört er alle verlässlichen Pfeiler ihres bürgerlichen Lebens: ihre Ehe, ihren Beruf, ihre Bleibe. Bis er sie schließlich dort hat, wo er sie haben möchte: in einem riesigen Anwesen an den Grenzen der Stadt - wie in einem Märchen. Mittlerweile hat sie auch eine mysteriöse Frau kennengelernt (die dürre Grazie Cocco, die man etwa aus Tsukamotos KOTOKO kennt), mit der sie sich anfreundet. Dann stellt sich wieder heraus, dass ihr das Anwesen gehört und Nanami deren Angestellte ist.
Man sieht, es geht recht konfus zu in diesem Iwai. Immer noch eine Plotschleife, immer noch eine Manipulation, immer noch eine Unwahrscheinlichkeit mehr. Die Atmosphäre der subtilen Bedrohung, die in der ersten Filmhälfte sauber aufgebaut wird, zerstört sich durch die immer kurioseren Zusammenhänge sukzessive selbst. Der Film wird das Ungetüm eines märchenhaften "anything goes", bei dem man immer weniger gewillt ist, mitzugehen. Das Anhäufen gerät so zum Überhäufen, und die eigentlich schlanke Plotlinie des Anfangs wird durch den Erfindungsreichtum des Drehbuchs erstickt. Man gewinnt den Eindruck, dass in diesem Film viele Filme stecken. Dass hier jemand zu lange an einem Drehbuch gesessen und dabei das Gefühl für die richtigen Proportionen verloren hat (Iwai selbst). Es hat sich in mir verstärkt dann ein immer größer werdendes Gefühl des Unmuts geregt, das mir den Film beinahe verleidet hätte. Bevor er dann ganz am Ende mit einer absurden Szene endet - die allerdings auch deutlich macht, wie sehr die Anti-Heldin die Übersicht über ihr eigenes Leben verloren hat. Ganz so, scheint mir, wie der Regisseur die Übersicht über seinen eigenen Film.
Michael Schleeh
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P.S.: Gesehen habe ich die zweistündige Fassung. Es gibt außerdem noch einen (um eine Stunde längeren) dreistündigen Director's Cut.
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